Diplomatie per Skalpell

Kuba bildet heute keine Guerilleros für Lateinamerika mehr aus, keine Militärs und Sprengstoffspezialisten. Dafür Sporttrainer und Sporttrainerinnen, die das gewisse Know-how zum Gewinn von Goldmedaillen draufhaben. Und Ärzte und Ärztinnen. Selbst den USA, dem gefürchteten Nachbarn, soll auf diese Weise auf die Sprünge geholfen werden. Skizzen aus der Karibik über eine neue Front der sozialistischen Außenpolitik

von TONI KEPPELER

Man könnte die Einrichtung eine Offshoreuniversität nennen. In den USA kennt man so etwas schon lange. Auf der Karibikinsel Grenada etwa gab es eine US-amerikanische Medizinhochschule. Angeblich wollten die Marines, die 1983 die Insel überfielen, das Leben ihrer Studenten schützen. Nebenbei stürzten sie eine sozialistisch angehauchte Regierung, erschossen ein paar kubanische Bauarbeiter, die als Entwicklungshelfer dort waren, und setzten eine ihnen genehme Regierung ein.

So wie bei Offshorebanken die üblichen legalen Finanzgeschäfte eher zweitrangig sind, steht bei Offshoreuniversitäten das Studieren nicht so sehr im Mittelpunkt. Nur selten dienen sie als Vorwand für eine Militärintervention. In aller Regel ist ihr Hauptzweck angenehmer. Sie werden von Söhnen und Töchtern aus feinen Familien bevölkert, die mehr als am Studium an Sonne, Suff und Stränden interessiert sind. Der akademische Titel ist trotzdem garantiert. Schließlich bezahlt der Papa einen Haufen Geld dafür.

Auch die „Lateinamerikanische Hochschule für medizinische Wissenschaft“ liegt direkt am Karibikstrand. Und auch dort studiert kein einziger Einheimischer. Zwei typische Merkmale einer Offshoreuniversität. Trotzdem ist diese Hochschule ganz anders. Sie befindet sich in Baracoa, und Baracoa liegt rund zehn Kilometer westlich von Havanna.

Früher war der Komplex eine Kaserne, in der die staatliche Marineschule untergebracht war. Heute ist er in freundlichem Weiß und Hellblau gestrichen und ein Vorzeigeprojekt des kubanischen Sozialismus. Mehr als fünftausend Studenten aus Lateinamerika, ein paar Dutzend aus Afrika und acht aus den USA werden dort auf den Arztberuf vorbereitet.

Die militärische Tradition des Areals ist noch spürbar. Das Gelände wird von einem hohen Zaun geschützt. Die Wachen am Schlagbaum des Eingangs sind zwar keine Soldaten mehr, aber ihre Uniformen kommen denen des Militärs ziemlich nahe. Wer hineinwill, braucht ein Stipendium. Wer hinauswill – und sei es auch nur, um sich einmal ordentlich satt zu essen –, muss eine Sondergenehmigung vorweisen.

Das Reglement ist streng: Studieren von sieben Uhr früh oft bis nach Mitternacht. Dann geht es zurück in die Schlafsäle. Sechs bis zehn Stockbetten pro Zimmer. Ein paar Spinde. Kein Quadratzentimeter Privatsphäre. Der weiße Strand und das türkisblaue Meer vor der Tür sind wegen des Zauns unerreichbar. Baden ist strengstens verboten.

Es hat eine lange Tradition, dass Kuba nicht nur mit Soldaten in Afrika und der Hilfe für Guerilleros in Lateinamerika Außenpolitik betreibt, sondern eben auch mit Ärzten. Schon 1963, vier Jahre nach dem Sieg der Revolution, schickte Fidel Castro die ersten Mediziner nach Algerien. Der letzte große Boom begann mit den Wirbelstürmen „George“ und „Mitch“, die 1998 die Dominikanische Republik und Zentralamerika verwüsteten. Kuba schickte Ärzte gleich zu hunderten.

Manchmal waren die Helfer nicht sehr gern gesehen. Nicaraguas rechter Präsident Arnoldo Alemán lehnte die Kubaner zunächst ab. Aber dann kapitulierte er doch vor der Not. Auch der honduranische Ärzteverband sah die deutlich besser ausgebildete Konkurrenz nicht gern. Zudem waren die sozialistischen Doktoren bereit, in Gegenden zu gehen, in die sich noch nie ein einheimischer Kollege verirrt hatte. Die honduranischen Weißkittel klagten bis vors Verfassungsgericht. Doch Präsident Carlos Roberto Flores stand fest zu Castros Helfern.

Nach „George“ und „Mitch“ ging es Schlag auf Schlag. Ein Jahr darauf die große Überschwemmungs- und Erdrutschkatastrophe in Venezuela. Dann eine Denguefieberepidemie in El Salvador. Haiti ist ohnehin in der Dauerkrise. Immer sind Ärzte aus Kuba da. Und ein paar bleiben auch. Oder gehen woandershin. Nur nicht zurück in die Heimat. Denn ein Arzttitel aus Kuba ist weltweit angesehen. Damit lässt sich fast überall feines Geld verdienen. Viel mehr als auf der sozialistischen Insel.

Auch das mag mit ein Grund dafür sein, dass Castro das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe entdeckte. Vor gut zwei Jahren eröffnete er die Medizinerschule in Baracoa und holt seither, statt Ärzte zu schicken, Studenten ins Land. Die Auswahl für die Sechsjahresstipendien treffen die kubanischen Botschaften. Dort, wo es mangels diplomatischer Beziehungen keine gibt, übernehmen ortsansässige Linksparteien oder kubafreundliche Nichtregierungsorganisationen den Job. 7,7 Millionen Dollar seiner knappen Devisen steckt der Staat Jahr für Jahr in diese Universität.

Ein ähnliches Programm gibt es inzwischen für Sportler. Auf dem Gebiet der Leibesertüchtigung ist Kuba nämlich ähnlich angesehen wie in der Medizin. 131 olympische Medaillen hat das kleine Land gewonnen, seit es sozialistisch ist. Mehr, als alle lateinamerikanischen Staaten zusammen. So etwas weckt Begehrlichkeiten, und also betreibt Kuba seit bald einem Jahrzehnt einen schwunghaften Verleihhandel mit Trainern. Selbst in eher abseitigen Sportarten. Ideologische Schranken spielen keine Rolle.

Wenn sich im Pool die Wasserballnationalteams der beiden streng antikommunistisch regierten Länder Guatemala und El Salvador messen, sitzt auf jeder Bank ein kubanischer Trainer. Auch die salvadorianischen Fechter, Tennisspieler, Synchronschwimmerinnen, Schachspieler – sie alle verdanken ihre Erfolge sozialistischen Übungsleitern. Bloß für den Fußball taugen kubanische Spezialisten nicht.

Anders als Ärzte gibt es Sportlehrer nicht umsonst. Sie kassieren die ortsüblichen Gehälter eines Nationaltrainers. Ein Drittel davon dürfen sie behalten, zwei Drittel gehen nach Kuba. Ein einträgliches Geschäft. Doch manch einer wollte das ganze Gehalt und wandelte sich vom Gesandten des Sozialismus zum Exilkubaner.

Auch auf diesem Gebiet leistet Castro nun Hilfe zur Selbsthilfe. Im März verwandelte er die alte Funkerschule im Norden von Havanna in die „Lateinamerikanische Schule für Sport“. Knapp sechshundert Studenten aus fünfzig Ländern sind im ersten Semester eingeschrieben. In fünf Jahren sollen sie als Hochleistungstrainer in ihre Heimat zurückkehren.

Carmen Vanzetti kommt aus Nicaragua. Sie ist neunzehn und schon über ein Jahr lang in Baracoa kaserniert. Sie hat genug Erfahrung, um den tieferen Sinn der militärischen Disziplin zu verstehen, ist davon überzeugt, dass sich selbst die Ausgangsregelung streng nach den Erfordernissen der sozialistischen Planwirtschaft richtet.

Wenn alles läuft wie vorgesehen, gibt es in der Mensa zweimal im Monat Rindfleisch und zweimal Huhn. Der restliche Eiweißbedarf wird durch Eier gedeckt. Und abends gibt es keinen Ausgang. Manchmal aber werden Rind und Huhn und Eier knapp. „Dann gibt es nur noch Maisbrei mit Bohnenmus. Tagelang.“ Immer noch gibt es keinen Ausgang. Erst wenn selbst dieses karge Mahl knapp wird, dürfen alle hinaus, solange sie wollen. In der Hoffnung, dass keiner bei den letzten Resten von Maisbrei und Bohnen verhungert. Carmen beschwert sich nicht. Denn außer einem guten Essen „bekommen wir hier alles“. Freies Studium, freie Unterkunft. „Selbst Klamotten und Schuhe haben sie uns gegeben. Und wir haben die besten Professoren Kubas.“

Gerne darf dafür ein bisschen Indoktrination sein: „Wir haben auch Geschichtsunterricht.“ Die kubanische Sicht der Geschichte. Dabei wird auch über die USA gesprochen. Aber sehr vorsichtig. „Die wissen, dass für viele von uns die USA das Größte sind, und nehmen ein bisschen Rücksicht darauf.“ Ja, die Studenten würden sogar zum Widerspruch ermuntert.

Carmen scheint fast überrascht zu sein über die Freiheit der Gedanken. Was hat man nicht alles gehört von Kuba und seinem Umgang mit der Meinungsfreiheit! Aber selbst in die Kirche dürfe man sonntags gehen, wenn man wolle. Natürlich wird auch zu den staatlich organisierten Massendemonstrationen aufgerufen, bei denen es in aller Regel gegen den Yankee, seinen Imperialismus und seine Blockadepolitik geht. Es werden Busse gestellt. Aber die Teilnahme sei rein freiwillig. Carmen geht nicht in die Kirche. Aber dreimal war sie schon bei einer solchen Demo.

Es ist nicht bekannt, ob auch einer der acht US-Studenten an den Protesten gegen sein Vaterland teilgenommen hat. Vorstellbar wäre es. Alle acht kommen aus der New Yorker Bronx. Sie sind Latinos oder Schwarze. Kuba bietet ihnen eine Chance, die sie zu Hause nie gehabt hätten. Der kleinen Vorhut sollen fünfhundert weitere Stipendiaten folgen. Eine feine Idee. Sozialistisches Gedankengut wird mitten ins Herz des Feindes getragen.

Schuldirektor Juan Carizo Estévez wiegelt ab: Mit Politik habe das nichts zu tun. „Wir haben lediglich eine andere Sicht der Medizin. Bei uns ist ein Patient noch ein Patient und keine Zahl im Budget.“ Auch Dagoberto Rodríguez, Direktor für US-Angelegenheiten im kubanischen Außenministerium, will von Unterwanderung nichts wissen: „Wir wollen den USA nur helfen, ihre schwerwiegenden Probleme im Gesundheitsbereich zu lösen.“ Wie großzügig!

TONI KEPPELER, 44, taz-Korrespondet für Zentralamerika und die Karibik, lebt in San Salvador. Einige seiner Informanten in Kuba lernte er mit der Hilfe ehemaliger salvadorianischer Guerilleros kennen, die dort in den Achtzigerjahren ausgebildet worden waren