Auffällig unprovokativ

Fetisch Feder: Von in Ruhe gelassener und manipulierter Natur: Lothar-Baumgarten-Retrospektive in der Kunsthalle  ■ Von Petra Schellen

Die Hundedichte ist schon enorm gestiegen, Sie Schnapphahn! Und die Quasispezies Mensch ergeht sich vornehmlich in Sofazynismen, nur gelegentlich unterbrochen vom Kuttenschneck. Und wenn die Gewinnwarnung ernst genommen würde, könnten sich auch Wachtelpfeif und Lammnase nicht gegen solche Vollzugskultur-Symptome wehren.

Spaß macht's, mit Lothar Baumgartens Wort-Bordüren zu spielen. Vergnüglich ist's, die Begriffe – eine Mischung aus Johann Fischarts Spätrenaissance-Bestand und akutem Neudeutsch – zu vermengen, um eine jener „neuen Bildwelten“ zu erschaffen, die Baumgarten daraus geflochten wissen will. „Kontextualisierung“ nennt Ex-Documenta-Teilnehmer Baumgarten, der derzeit die komplette Kunsthalle bespielt, sein Schaffensprinzip. Den Ort berücksichtigen will der Künstler, dessen erste große Deutschland-Retrospektive dies ist und dessen Werke in der Tat manche Frage aufwerfen. Denn schwierig ist es, Akut-Erkenntnisse neben Provokationen der 60er und 70er ins Heute zu transportieren.

Befremdlich wirken zum Beispiel die Fotos venezolanischer und brasilianischer Ureinwohner von 1978/79 im Kupferstichkabinett, die, so der Künstler, „dem Euro-zentrismus wehren sollen“. Haben sie damals bestimmt auch getan. Heikel wirkt dies aber heute, schwingt doch trotz allen Erklärens immer eine Spur Vorführeffekt mit, jener Voyeurismus, der sich letztlich über das Dargestellte erhebt.

Beliebig bis belanglos wirken dagegen die zwischen Gauguins Knabenbildnisse gehängten Süd-amerika-Fotos, deren Verbindung zum künstlerischen Ambiente dunkel bleibt: „Es passte einfach hierhier“, sagt der Künstler. Allein – mehr als der schlichte äußere thematische Bezug lässt sich nicht finden, auch keine exorbitant neue Perspektive. Und wieder keimt dieses postkoloniale Unwohlsein, das den Betrachter auch beim Beäugen der Vitrinen im Gang hinter der Cafeteria nicht loslässt: Etliche Federn hat Baumgarten 1972 bis '74 mit Namen nordamerikanischer Indianerstämme bemalt – eine ethnografische Arbeit, der ein Leporello beigefügt war, das die Bedeutung der Feder für die verschiedenen Kulturen erklärte. Ein damals provokativ differenzierter Blick auf Indianerkulturen, der heute allenfalls als Historicum interessiert.

Überhaupt befremdet es, dass eine Retrospektive, die ausschließlich Werke der 60er und 70er Jahre präsentiert, unter dem Label „zeitgenössisch“ firmiert, lenken sie doch – latent überholt – enorm von der aktuellen Leistung des Künstlers ab. Doch Baumgarten scheint das zu gefallen. Etliche Fotos von 1967/68 – seine „künstlerische Grammatik“ – liegen z. B. in einer Vitrine. Fotos sind es, deren zentrales Thema Natur – vorgefundene und manipulierte – ist, wobei die Grenze oft verschwimmt: Eine neue, eigene Welt von Fetischen schafft Baumgarten, wenn er einen Topf samt Schlachtermesser an einen Baum hängt, als hätten dort gerade Kannibalen gespeist. Interessant ist auch die in einer Bodendiele zurückgelassene rote Feder, die an Voodoo-Püppchen erinnert und surreal bis dekorativ wirkt.

Natürliche und menschengemachte Veränderungen interessieren Baumgarten – und das Phänomen „Inszenierung“. Und subtil klingt dabei die Frage an, ob der vom Menschen vorgenomme Natureingriff anders zu bewerten ist als natürliche Veränderungen – oder ob nicht alles „im Fluss“ und ein großes Spiel ist, in dem der Mensch als Teil der Schöpfung gleichberechtigt mitwirken kann.

Werten will Baumgarten dabei nicht. Er stilisiert vielmehr das Künstliche und mischt Erfahrungsebenen, bis sie sich genauso auflösen wie die vermeintliche Authentizität der Fotos: Bis zu 16 Geräusche hat er für eine Installation (1986-74) übereinandergesampelt und – lange, bevor er nach Südamerika kam – einen Soundtrack erzeugt, der die Originalgeräusche dortiger Wälder täuschend echt nachahmt. „Da gefällt es mir besser als in Westfalen“ hat er an die mit Diaprojektionen kombinierte Installation geschrieben – und ein klein wenig drängt sich bei der Betrachtung seiner Werke der Verdacht ganz privater Fetischisierung auf. Oder bedeutet es eine ironische Hinterfragung magischen Denkens, wenn in einem der Räume drei Federn an der Wand prangen? Möglich, vielleicht auch bewusst verfremdete Erfahrung – oder ein kleiner Test für das Fußvolk bezüglich seiner Anfälligkeit für archaische Symbole.

Was die „Kontextualisierung“ betrifft, scheint das Ausstellungskonzept allerdings nicht ganz aufzugehen: Nicht nur, dass man die verstreuten Exponate nur mit Mühe findet: Die harmlose Platzierung (im düstr'en Gang, im unauffälligen Eck) und ihre Vereinzelung der Werke lässt auch den Verdacht aufkommen, dass der Künstler entweder nicht mehr wagte oder nicht mehr durfte.

Oder wollte Baumgarten im Unverbindlichen ausharren, die Auffindung seiner Werke dem Zufall überlassen, anstatt sich echtem Diskurs etwa dadurch auszusetzen, dass er seine Orinoco-Fotos zwischen die mittelalterlichen Tafelbilder hängte? Das wäre mutig, kantig, beißend gewesen. Alles andere ist Kunsthallen-Zentrismus.

Bis 14. Oktober, Hamburger Kunsthalle; geöffnet Di bis So 10 – 18 Uhr, Do bis 21 Uhr