Nussknacker und Musik

Alte Musik ist „in“ – auch im westlichen Erzgebirge. Die Region, bekannt für ihren Weihnachtskult, pflegt auch ihre musikalischen Traditionen

Der Deutsche Sommer, Teil V: Stellen Sie sich vor, es gibt eine Kampagne, und niemand nimmt sie wahr: Die Deutschen Zentrale für Tourismus (DZT) hat 10 Millionen Mark in das „Jahr des Tourismus 2001“ gesteckt. Gegen den Ruf der Servicehölle trommelt sie fürs „Erlebnisland Deutschland“. Wir haben uns umgeschaut

von CHRISTIAN DEUTSCHMANN

Wenn der Berg ruft, setzen sich auch die Fans der Alten Musik, ein sonst eher kontemplativ gesinntes Völkchen, umstandslos in Bewegung. Wir sind im Erzgebirge, wo ein seit Jahrhunderten betriebener Bergbau dafür gesorgt hat, dass den Leuten das Innenleben der Bergwelt so ans Herz gewachsen ist wie anderen, sagen wir, ihre Hauspantoffeln oder die Geranien am Fenster. Also Schutzhelm auf und ab nach unten. Mit nie erlahmender Stentorstimme und schönstem Erzgebirg-Sächsisch begleitet uns Herr Würzburg, der den Berg wie seine Westentasche kennt, aber auch weiß, was unsereinen an dessen Innenleben so interessiert.

Mächtig von den Wänden widerhallend, folgt uns seine Stimme die einen Kilometer lange abschüssige Strecke, und so mancher besorgte Blick aus dem Grüppchen richtet sich nach oben – dorthin, von wo es einem immerfort auf den Kopf regnet und man daran erinnert wird, dass sich in das herabtröpfelnde Kondenswasser auch schon einmal locker gewordenes Geröll mischen könnte. Unten teilt sich der Weg. Der Ort, zu dem es rechtsherum geht, war früher mal eine Montagehalle, doch an diesem Sommerabend erlebt er, wie schon mehrfach zuvor, eine Metamorphose, heißt „Musikgrotte“ und hat neben einer makellosen Akustik sogar ein kleines Sektbuffet. Auch die Raumtemperatur ist gnädig: Die Abwärme vom daneben liegenden Kraftwerk sorgt dafür, dass die sonst ewig von Verstimmung bedrohten Barockgeigen der „Batzdorfer Hofkapelle“ ihren Ton halten und „La Gara degli Dei“, die Oper des einstigen Dresdner Hofkomponisten Johann David Heinichen, ungestört ihre klanglichen Reize entfalten kann.

Doch den Freunden des Schönen, so will es das „Fest Alter Musik im Erzgebirge“, steht mit einem Vorprogramm erst einmal Triebaufschub bevor. Und das bedeutet, da ist Herr Würzburg unerbittlich, nach links gehen. Denn 120 Meter unter Tage gibt es hier mit dem Pumpspeicherwerk Markersbach das größte unterirdische Wasserkraftwerk Deutschlands zu besichtigen. Südlich von Chemnitz, an der B 101 zwischen Schwarzenberg und Annaberg-Buchholz, gegenüber einem seit Jahren vor sich hin rostenden Eisenbahnviadukt gelegen, wurde es 1981 in Betrieb genommen. Gespeist wird es aus dem Flüsschen Mittweida, das, in einem „Unterbecken“ gestaut, mit billigem Nachtstrom in das künstlich angelegte „Oberbecken“ gehievt wird und dann in freiem Fall durch den Berg nach unten saust, um dort sechs gewaltig dröhnende Turbinensätze mit einer Leistung von je 175 Megawatt anzutreiben: eine Energiemenge, die, wenn wir Herrn Würzburg glauben, ausreicht, ein Drittel von Sachsen vier Stunden lang mit Strom zu versorgen.

Die Sachsen lieben solche Superlative. Auch wenn anderenorts immer noch stillgelegte Fabrikschlote und Werksruinen die Talstraßen der einst so betriebsamen Region säumen – hier ist die Welt noch in Ordnung. Nach der Wende investierte die Vereinigte Energiewerke AG (Veag) gut 40 Millionen Mark, um das Markersbacher Kraftwerk auf neuzeitlichen Stand zu bringen. Als Ort des Gewerbefleißes ist es zugleich ein „technisches Denkmal“ und wird als solches in den Prospekten der Verkehrsämter beworben. Denkmäler dieser Art gibt es im Erzgebirge zuhauf. Und wie in Markersbach öffnen sie sich gern allen möglichen Zwecken.

Denn ob Kirchen, Schlossruinen, Naturtheater, Bergwerke oder eben ein unterirdisches Pumpspeicherwerk – an prächtigen oder auch nur ungewöhnlichen Veranstaltungsorten für erlebnishungrige Zeitgenossen herrscht hier inzwischen kein Mangel mehr. Und kunstliebend – darüber können auch die Auswüchse des „Haamit“-(Heimat-) Kultes nicht hinwegtäuschen – waren die Erzgebirgler schon immer.

Mit neun „Konzerten an der Silberstraße“ erlebte das Fest Alter Musik im Erzgebirge sein siebtes Jahr. Neben zugkräftigen Musikern aus dem Dresdner Raum kann es sich auch auf eine bis heute ungebrochene einheimische Kantoreientradition stützen, gleichsam eine musikalische Umsetzung des hier herrschenden gastronomischen Erfolgsmottos „Aus der Region“.

Große Komponisten des frühen Barock wie Johann Hermann Schein, Johann Kuhnau, Johann Schelle oder Gottfried Heinrich Stölzel sind hier geboren, und gäbe es das Erzgebirge nicht, könnten Dresdner Staatskapelle, Gewandhausorchester, Thomaner in Leipzig oder Kruzianer in Dresden ihren Laden wahrscheinlich zumachen. „Bestimmt ein Drittel von ihnen kommt aus dem Erzgebirge“, vermutet Katrin Bemman, auf deren schmalen Schultern die gesamte Organisation des Festivals ruht. Und zwei bis drei Neuentdeckungen aus dem riesigen Fundus sächsischer Archive stehen jedes Jahr auf den Programmzetteln.

Beim Konzert in der St.-Georgen-Kirche von Schwarzenberg, einem Ort mit gerade mal 20.000 Einwohnern, hat nicht nur der Auftritt der über 70 überaus professionell gewandeten Damen und Herren der Schwarzenberger Kantorei Staatsopernreife. Auch das klangliche Resultat (zwei Bachkantaten und zwei Werke von Schelle) ruft Jubel und kenntnisreiche Kommentare hervor. Denn Dynastien gleich bringen hier einzelne Familien die Größen des Musikbetriebs hervor. Eine Institution des Erzgebirges war Kirchenmusikdirektor Rolf Rademann, der den Ruf des Schwarzenberger Chors weit über die Grenzen der Region hinaustrug, bis er vor wenigen Monaten seinem Nachfolger Christoph Zimmermann Platz machte, über dessen Qualitäten noch gestritten wird. Rademanns Sohn Hans Christoph gründete 1985 den renommierten Dresdner Kammerchor und wurde 1999 Chordirektor beim Norddeutschen Rundfunk. So scheint sich hierzulande Musikalität zu vererben.

Vom „Dreiklang aus Musik, Architektur und Landschaft“ spricht Katrin Bemmann, wenn sie neben den heimischen kantoralen Traditionen ein weiteres Charakteristikum des Festivals benennen will. Wer hier anreist, erlebt außer einigen exzellenten, ausnahmslos in historischer Aufführungspraxis gespielten Konzerten ein kurioses Nebeneinander von Welten: Das eine, das sind die gedrechselten und geschnitzten Holzschnitzfigürchen, deren putziger Charme längst die Republik erobert hat. Das Erzgebirge als Weihnachtsland. Das andere ist jener Kunstsinn, wie er einen aus der Zeit des Silberbergbaus in den beiden prächtigen spätgotischen Hallenkirchen in Schneeberg und Annaberg-Buchholz begegnet, aber auch bei Entdeckungsreisen in der Region unversehens auftaucht: die eine oder andere der bis unters Kirchendach mit hölzernen Emporen und Patronatslogen ausgefüllten Dorfkirchen, eines der schönen Rats- oder Bürgerhäuser aus Renaissance und Barock – und vieles dergleichen mehr.

Obwohl es heute kaum mehr eine Arbeit unter Tage gibt – der Ruf des Bergs ist hier noch lange nicht verstummt. Viele Einwohner zieht es hier in der Vorweihnachtszeit in die Tiefe, wo einst gehämmert, gehauen und gebohrt wurde, um zwischen Tannengrün und Kerzen Stunden der Besinnlichkeit zu verbringen. Längst hat sich an der „Silberstraße“, wo es kein Silber mehr gibt, das Bild gewandelt. Aus den FDGB-Heimen sind wie mit dem Hotel „Am Hohen Hahn“ in Bermsgrün bei Schwarzenberg ebenso schmucke wie erschwingliche Touristenherbergen geworden. „Erzgebirgsmäßiger“ sind solche urigen Etablissements wie der „Landgasthof Neitsch“ in Grünstädtel, das „Wanderheim Oberjugel“ in Johanngeorgenstadt mit seinem singenden Wirt oder das Gasthaus „Moosheide“ nördlich von Grünhain an der Landstraße nach Zwönitz, wo ein authentisches Plumpsklo bis heute alle bürokratischen Auflagen überdauert hat. Die Arbeitslosenquote ist hier auf 25 Prozent geklettert, die Jugend großenteils abgewandert. Doch am Erscheinungsbild der Ortschaften lässt sich das nicht ablesen.

Da ist Schwarzenberg, wo sich eine gerade weltstädtisch anmutende Szene im Café „Kunst und Kneipe“ trifft und hin und wieder auch Paul Korb zu finden ist, der mit seinen 97 Jahren letzte noch lebende Aktivist der legendären „Republik Schwarzenberg“. Auch andere Zeugnisse, darunter ein „Lehrpfad“, erinnern hier an das rätedemokratisch aufgezogene Staatsgebilde, das 1945 einen kurzen Sommer erlebte, bis ihm mit den Einmarsch der Sowjets und der Rückkehr der Ulbricht-Leute aus Moskau der Garaus gemacht wurde.

Auch wenn die Zersiedelung allenthalben idyllische Stimmungen nur noch stellenweise aufkommen lassen will, von Zerstörung der Natur ist hier wenig zu spüren. Wer das Glück hat, mit Revierförster Arne Beck den Schwarzenberger Stadtwald zu durchwandern, einem schlaksigen blonden Hünen, dessen Begeisterung für seinen Job einem aus beiden blauen Augen entgegenlacht, dem dürfte fortan beim Stichwort „Erzgebirge“ mehr einfallen als nur „Waldsterben“ und „saurer Regen“.

Nächstes Jahr wird das „Fest Alter Musik im Erzgebirge“ wieder ein Stück weiter sein. Dann werden Sänger wie Peter Schreier und Ensembles wie die Berliner „Akademie für Alte Musik“ oder die „Cappella Amsterdam“ davon künden, dass hier ein kleines regionales Musikfest dabei ist, die Reife größerer Festivals zu erreichen. Dann werden sich auch die Ortschaften der Region wieder ein Stückchen mehr herausgeputzt haben, möglicherweise ein paar Sponsoren mehr gewonnen sein und wird das mittlere und westliche Erzgebirge ein Stückchen höher auf der touristischen Erfolgsskala geklettert sein.