Der Traum vom richtigen Leben

Malin Schwerdtfegers Geschichten erzählen von Menschen, die ihren Sehnsüchten folgen, um dabei ihre Unschuld zu verlieren. Und von Situationen, die alles verändern. Ähnlich wie das erste Buch, nach dem nichts so ist wie zuvor. Ein Porträt

von JAN BRANDT

Wer Beachtung will, muss einschlagen wie eine Bombe. Das haben die jungen deutschen Autoren inzwischen gelernt. Und damit es so richtig knallt, treten manche gleich mit mehreren Büchern an die Öffentlichkeit. Wie zum Beispiel Malin Schwerdtfeger: Im Frühjahr erschien ihr Erzählungsband „Leichte Mädchen“ und in diesen Tagen folgt der Roman „Café Saratoga“, den Verlagsangaben zufolge mit einer Startauflage von 20.000 Exemplaren. Bereits im vergangenen Sommer gewann sie in Klagenfurt bei den „Tagen der deutschsprachigen Literatur“ für eine ihrer Kurzgeschichten ein Stipendium, und die Frauenzeitschrift Marie Claire erklärte Malin Schwerdtfeger in ihrer Januarausgabe zur literarischen Newcomerin des Jahres.

„Debüt bedeutet Krawumm“, sagt Malin Schwerdtfeger, und die ruhige, zurückhaltende Art, mit der sie das sagt, erweckt den Anschein, als sei ihr die ganze Aufregung um ihre Person peinlich, als wolle sie am liebsten wieder verschwinden, an einen einsamen Ort, an dem sie weiter schreiben kann. Geschichten schreiben von Menschen, die vor wichtigen Entscheidungen stehen und ihr Leben selbst in die Hand nehmen, von Müttern in den Wechseljahren und Töchtern, die gerade ihre Tage bekommen und früh Verantwortung tragen müssen.

Eines dieser „leichten Mädchen“ gibt dem kranken Vater die Thrombosespritze, leert seine Bettpfanne und wäscht der Mutter, die gerade von einer ihrer Bergtouren in Zentralasien nach Deutschland zurückkommt, die verfilzten Haare. Ein anderes Mädchen reist mit einem „mondrianfarbenen Hartschalenkosmetikkoffer“, in dem sich die Asche des verstorbenen Freundes befindet, durch Spanien, will zurück zu einer abgelegenen Plantage, auf der er Hanf angebaut hat, um ihm einen letzten Wunsch zu erfüllen.

Und in der Titelgeschichte ziehen ein paar wahrhaft leichte Mädchen aufs Land, in ein Dorf, das hauptsächlich von der Milchverarbeitung lebt, und bringen das Leben der biederen Bewohner ordentlich durcheinander. Den Männern weicht das Blut aus dem Gesicht und wandert „woandershin“, und die Tochter eines Molkereiarbeiters, die unter dem Gestank der sauren Milch leidet, lässt sich von den fremden Düften der Frauen, von ihrem süßen Parfum und den Zimtkaugummis derart verführen, dass sie gleich bei ihren neuen Freundinnen einzieht.

„In aller Welt“ ist eine der Erzählungen überschrieben, und eigentlich könnten alle Geschichten so heißen, spielen sie doch in Polen, Israel oder Hongkong, Orte, an denen Malin Schwerdtfeger selbst zum Teil nie gewesen ist, die sie sich von Freunden hat erzählen lassen. Seit fast zehn Jahren lebt die 29-Jährige in Berlin-Kreuzberg, und zum ersten Mal sitzt sie in der Ankerklause am Landwehrkanal, die nur ein paar hundert Meter von ihrer Wohnung entfernt ist und ebenso gut das „Café Saratoga“ sein könnte. Die Wände schmücken aufgemalte Fische, daneben hängen Fotos von Hans Albers mit Kapitänsmütze, im Hintergrund ist ein Hafen zu sehen und dahinter das Meer. Diese Ferne, diesen weiten Blick braucht auch Malin Schwerdtfeger, um ihre fiktiven märchenhaften Welten zu erschaffen. „Ich habe keinen Bezug zu dem, was um mich herum passiert“, sagt sie, „die Abbildung der Gegenwart, das eigene tägliche Erleben würde mich zu sehr vom Schreiben ablenken.“

Manches, was sie sagt, versucht sie szenisch nachzuspielen, mit hoher Stimme erzählt sie von ihrer Kindheit in Bremen, ihrem frühen Interesse, Hebräisch zu lernen, von ihrem Studium der Judaistik und Islamwissenschaft und ihren Auslandsaufenthalten. Dabei schwenkt sie die Arme und gestikuliert so hastig, dass sie beinahe ihre heiße Milch mit Honig vom Tisch fegt, ihr die blonden Haare ins Gesicht fallen und sie einzelne Strähnen hinter die Ohren streichen muss, um weitersprechen zu können. Sie sagt, sie sei immer auf der Suche nach Menschen und ihren Geschichten, nach ihrer Wahrheit, sie wolle herausfinden, was sie über ihre Orte zu erzählen haben, über ihre Herkunft, ihre Vergangenheit, ihr Leben. In gewissem Sinne betreibt sie eine Art „Oral History“, die sie für ihr eigenes Schreiben nutzbar macht. Die Personen verlieren ihre Wirklichkeit, bekommen neue Namen, ein anderes Gesicht, eine charakteristische Sprache. „Man muss die Grenzen einer Figur abstecken“, sagt Malin Schwerdtfeger, „sonst wird sie unsinnlich.“

Ihre Hauptfiguren, Jugendliche meist, erleben die Pubertät mit solch einer Intensität, dass sie zu einer existenziellen Phase wird, die das Erwachsensein danach auf ein allmähliches, aber unvermeidliches Sterben reduziert. Einzige Ausnahme bildet Tata, der Familienvater in dem Roman „Café Saratoga“. Tata strotzt vor Energie und Lebensfreude, vor verqueren Gedanken und Ideen, die er seinem Publikum einpflanzt wie eine Droge, nach der man süchtig wird. Seine Exfrau kann nicht von ihm lassen, obwohl sein Gerede sie krank macht und ihre Ohren von dem Schwachsinn, den er verbreitet, „bluten“: „Als Jungfrau bist du zu mir gekommen und hast nach Wind gerochen, nach Strand und Sonne, und dann hast du angefangen zu stinken. Ich habe dich glücklich gemacht. Und eine glückliche Frau stinkt.“ Oder: „Die Frau lebt vom Mann und durch den Mann, sie ist aus ihm erschaffen. Mutter, Geliebte, Hure, Putzfrau – das sind die Säulen der weiblichen Existenz, die Urberufe der Frau. Vielleicht noch Zahnärztin.“

Der Roman „Café Saratoga“ spielt in den Achtzigerjahren auf der polnischen Halbinsel Hel, die „wie ein magerer Finger in die Danziger Bucht“ ragt. Eine Straße und eine Eisenbahnlinie ziehen sich fast vierzig Kilometer durch kleine Fischerdörfer, Kiefernwälder und Dünen, auf der einen Seite ist die Ostsee, auf der anderen Danzig, viel mehr gibt es nicht: eine karge Landschaft mit jeder Menge frischem Wind und einer unendlichen Weite, die sich für Sehnsüchte und Projektionen aller Art bestens eignet.

Das Café selbst ist ein weißes Giebelhaus mit einer wellblechüberdachten Terrasse, gerade groß genug für sechs Tische. Tata will das Café zu einer Goldgrube machen, um dann von dem Geld nach Westdeutschland zu reisen, nach „Bundes“, wie er sagt, ins gelobte Land. Aber außer ihm will so recht niemand daran glauben, dass aus dem Café „ein richtiger Biznes“ werden könnte. Nicht seine Exfrau Lilka, die er „meine kosmische Sekretärin“ nennt, und auch nicht Sonja, seine Tochter, die überall da sein will, wo Tata ist, ob nun in Polen oder „Bundes“. Sie alle träumen vom richtigen, vom besseren Leben, und sind auf der Suche nach Möglichkeitsräumen, in denen sich alternative Lebensentwürfe verwirklichen lassen, das kann eine Stadt sein oder ein Berggipfel, manchmal reicht es schon, von zu Hause aus- und bei den Nachbarn einzuziehen, und wem selbst das nicht gelingt, der lässt das Paradies im Kopf entstehen.

Im Vergleich zu dem Roman wirken die Erzählungen wie Fingerübungen, Vorarbeiten. Die Themen aber sind die gleichen, in beiden Büchern „dreht sich alles um Blut und Fruchtbarkeit“, ums Erwachsenwerden, um Selbstbehauptung, um Liebe und Tod. Es wird viel Milch getrunken, eiweißreich und gesund gegessen, über Sex und die deutsche Geschichte geredet. Die historischen Verweise aber, die sich in nahezu allen Texten finden, gehören zu Malin Schwerdtfegers Schwächen: Etwa wenn zwei Teenager eine Reise planen und „wie Adolf Hitler und General Paulus am Kartentisch“ sitzen oder wenn beim Kartenspiel eine Atmosphäre herrscht „wie bei der Konferenz von Jalta“. Das wirkt allzu bemüht und deplatziert in einer subjektiven Erzählweise, die in den besten Momenten so wenig wie möglich verrät, nicht mit Bildung und Meinung prahlt und doch über sich selbst hinausweist.

Malin Schwerdtfeger verfügt über eine eigene, unverkennbare Sprache, die sich bis auf wenige Ausnahmen nicht in unsinnigen poetischen Spielereien verliert und die Balance hält zwischen Ironie und Ernsthaftigkeit, Witz und Gefühl. Sie hat ein Gespür für die unerfüllbaren Sehnsüchte der Menschen, für ihre Verzweiflung, ihr Ausgeliefertsein und ihre zähe Hoffnung, den Ort des Glücks doch noch zu finden, auch wenn die Reise dorthin zurückführt, von wo sie aufgebrochen sind.

Im Geiste, mit dem Finger auf der Landkarte, ist Malin Schwerdtfeger ihnen hinterhergefahren, hat recherchiert, gefragt und zwei Jahre geschrieben. Und jetzt, da sie „etwas Ordentliches gemacht und erreicht hat“, wie sie selbst sagt, kann sie endlich ihr Studium beenden. Sie ist froh, beide Bücher gleichzeitig geschrieben zu haben, ohne den Druck der Öffentlichkeit. Zu viel Kritik belastet alles und zerstört den Zustand des bewusstlosen Schreibens. Aber mit dem Erscheinen von „Café Saratoga“, wird sich ihr Leben unaufhaltsam verändern, so wie sich bei ihr das Lesen verändert hat: „Das Schönste am Lesen ist die Unschuld, und die hat man irgendwann verloren, es folgen andere schöne Erlebnisse, aber es wird nie wieder so geheimnisvoll sein wie beim ersten Mal, wie beim ersten Buch.“

Malin Schwerdtfeger: „Leichte Mädchen“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001, 139 Seiten, 15,50 DM„Café Saratoga“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001, 288 Seiten, 38 DM, erscheint am 23. August