Drachen am Boden

■ Der Beginn des Drachenfestivals in Lemwerder fiel mitten in ein Windloch. Nix los am Himmel, aber um so mehr gab es dafür am Boden zu besichtigen

Von Ferne sieht man kaum etwas: Ein bisschen Fliegendreck am Himmel, eine Handvoll Drachen, die in der Luft taumeln. Die Großen wurden bei Windstärke 0,2 oder weniger noch nicht mal ausgepackt. Statt Drachen macht sich am Freitag erstmal eine gähnende Flaute über Lemwerder breit.

„Entweder es ist Wind genug, aber dann regnet es. Oder wir haben viel Sonne und keinen Wind.“ Die Frau aus Pinneberg zieht letzteres entschieden vor. Ihr Mann dagegen stöhnt über den Windausfall und zieht weiter unaufhörlich an der Schnur, um seinen Leichtdrachen wenigstens für ein paar Minuten in der Luft zu halten. Der Beginn des zehnten Drachenfestival in Lemwerder ruht am Boden, wo bunte Buden für Kirmes-Atmosphäre sorgen, ein Irrgarten aus Spinnacker-Nylon lockt und Don Quichote als Theater-Spektakel mit Ballons am Himmel aufgeführt wurde.

Neben der Familie aus Pinneberg sind Drachenfreunde aus halb Norddeutschland und Holland für das Wochenende nach Lemwerder gezogen. Ihre Campingwagen und Zelte haben sie an den Rand des Ritzenbütteler Strands geparkt und davor – wie Reviermarken – jeweils ein gutes Dutzend Windspiele gesetzt.

Überhaupt sind Drachenfreunde ein reiselustiges Volk: In der Saison von Frühling bis Herbst ziehen sie von Festival zu Festival. Fast jedes Wochenende findet irgendwo eins statt, erzählt eine 50-Jährige aus Oldenburg, die sich wie die meisten mitreisenden Frauen nur aufs Zugucken beschränkt. Der Mann lenkt, die Frauen kochen, oder schnacken mit den Nachbarinnen, die sie schon vom letzten Jahr kennen.

Erst im Winter, wenn es draußen zu kalt wird, um die Finger in den Wind zu halten, bleiben die Sturmerprobten zu Hause. Dann werden die Drachen für die nächste Saison gebaut. Auch die Drachen, die in Lemwerder dem Himmel entgegen fliegen sollen, sind fast alles stolze Eigenkreationen. Da geht es um sehen und gesehen werden, da werden Baukonstruktion verglichen, Tipps und Originale getauscht. Die Pinneberger zum Beispiel haben inzwischen an die hundert Drachen gebastelt, aber wegen der angesagten Flaute diesmal nur die Leichtwindsegler eingepackt. Ein Oldenburger hat sich auf Miniatur-Drachen spezialisiert. Jetzt fachsimpelt er mit einer Dose Bier in der Hand über die Frage, mit wie viel Stangen ein Genki-Drachen auskommt.

Noch sind die meisten der Flugobjekte auf der Erde zu bewundern. Zum Beispiel die Drachen-Schlange aus China: 100 Scheiben, filigran aus Seide und Bambus gefertigt, und in einer langen Reihe hintereinander gehängt, zusammengehalten vorne von einem großen Drachenkopf. Denselben verzierten Kopf hat sich der Besitzer auf seine Schulter tätowiert. Die Windspiele ringsum beginnen ein bisschen zu rattern. Es kommt Wind auf. Ein kurzer Blick nach rechts und links auf mögliche Konkurrenz am Himmel und schon wird die Drachenschlange nach oben gelupft. Ihr rund 50 Meter langer Schwanz wedelt immerhin für ein paar Minuten träge in der Luft und zieht die meisten neugierigen Blicke auf sich. Mehrere tausend Mark teuer war dieser Original-Import aus Fernost. Im alten China diente so eine Drachenschlange nicht nur als Flugobjekt. Es heißt, dass man mit Hilfe der Drachen das Geschlecht eines Babys vorhersagen konnte: Dafür schnitt man die Schnur durch, stürzte der Drache dann zu Boden, sollte es ein Mädchen werden. Flog der Drachen weiter, konnte man einen Jungen erwarten.

Friedlich sehen sie aus, wenn die Drachen erst durch die Abendlüfte kurven. Dabei wurden die schönen Flieger auch im Krieg immer hochgeschätzt. Ein paar Drachen aneinander gehängt, und schon konnte man Späher nach oben ziehen, die den Kriegsgegner ausspionierten oder gleich Pfeil und Bogen zückten. Nicht von ungefähr wurde der Cody-Drachen von einem englischen General erfunden und nach ihm benannt.

Selbst ein harmloser Kastendrachen, der meist nur still in der Luft steht, soll in den letzten Weltkriegen feindliche Flugzeuge vom Himmel geholt haben. Statt an Nylonschnüre, wurden die Drachen an Drähte gespannt, die die Propellermaschinen zum Absturz bringen konnten. Aber das ist lange her. Über Lemwerder wird es dunkel, eine Handvoll Drachen kreisen noch wie dunkle Vögel über dem Sand bis es still wird.

D. Krumpipe