Der chaotische Nachbar

Vorurteile und Stereotype prägen die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen. Während sich die Lebensweisen angleichen, nimmt das gegenseitige Verständnis ab

Ein Fünftel des Brutoinlandprodukts wurde im vergangenen Jahr in die Infrastruktur investiert

Europa und Russland sind näherher gerückt, näher gekommen sind sie sich nicht. Zehn Jahre nach dem Kollaps des Sowjetregimes weiß man mehr voneinander. Kenntnisse sind gewachsen. Gerade deswegen überrascht: Die atmosphärische Intelligenz, die Fähigkeit und der Wille, Motive und Zwänge des anderen jenseits der bloßen Faktenlage zu erkennen, diese Eigenschaft hat der Umgang miteinander nicht gefördert. Im Gegenteil: Alte Stereotype und Vorurteile sind auf beiden Seiten wieder auf dem Vormarsch. Der Westen ist es leid, auf ein Russland Rücksicht zu nehmen, das sich partout nicht nach seinem Bilde formen lässt. Russland indes ist vom Westen enttäuscht, der sich anfangs selbstlos gab, darüber aber nie eigene Interessen vergaß. Zehn Jahre nach der herzlichen Umarmung begegnet die russische Öffentlichkeit dem Zivilisationsmodell West mit weitaus mehr Skepsis als damals. Unterdessen gleichen sich die Lebenswelten und -weisen immer deutlicher aneinander an. Die Ablehnung ist emotional. Sie rekurriert auf Mythen und Selbstmystifizierungen, die der verunsicherten Nation ein Stück Selbstgewissheit zurückgeben sollen. Mit den realen Lebensbedingungen hat sie wenig zu tun. Ein Widerspruch, der gleichwohl eine Chance birgt: Eines Tages könnte Russland vor der Tür zum Westen stehen, ohne es ausdrücklich gewollt zu haben. Warum eigentlich nicht?

Russland ist ein Land der Gegensätze, ein Nebeneinander von verschiedenen Welten und Zeiten. Westliche Wahrnehmung und Russlandpolitik sind ihrerseits nie frei von Widersprüchen gewesen. Einerseits predigte man den Russen, den institutionellen Aufbau von Staat und Gesellschaft voranzutreiben. Die eigene Praxis folgte indes anderen Prinzipien. Während sich vor unseren Augen eine der gewaltigsten historischen Verwerfungen der letzten Jahrhunderte vollzog, antwortete die Politik mit einem Instrumentarium spätmittelalterlicher Fürstentümer: Man glaubte, einen Vorgang von solcher Dimension durch persönliche Diplomatie, ein Gespräch unter zwei Männern, bewältigen zu können.

So hielt die ganze Welt an Michail Gorbatschow fest, als zu Hause längst alle Gefolgsleute das sinkende Schiff verlassen hatten. Gorbatschow stürzte, gemeuchelt von seinen Günstlingen, und doch wollte der Westen es nicht wahrhaben.

Niemand zog daraus eine Lehre. Gleiches wiederholte sich mit dem greisen Boris Jelzin. Der konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, und trotzdem blieb er aus westlicher Sicht der einzige Garant für Stabilität. Ob diese Stabilität womöglich auf einem Reformmoratorium beruhte, das der Gesellschaft letztlich höhere Kosten abverlangte, fragte niemand. Reformstaaten mit mehreren Regierungswechseln können inzwischen auf größere wirtschaftliche Erfolge verweisen. Die Angst vor Destabilisierung scheint eher eine Projektion westlicher Sicherheitspathologien zu sein. In Russland hat die personelle Stabilität den Austausch der Eliten blockiert, die Transformation verlangsamt, vor allem aber die Demokratie desavouiert.

Vor zehn Jahren war es eine Binsenweisheit: Das größte Land der Welt könne nur gesunden, wenn die Reformen einen tragfähigen Föderalismus hervorbrächten. Nun versucht der neue Kremlchef, die Ansätze rückgängig zu machen und das Zentrum zu stärken. Der Westen hat dem nichts entgegenzusetzen.

Fazit: Die internationale Gemeinschaft trug dazu bei, dass sich auch im neuen Russland die historischen Gebrechen, die Fixierung auf eine Führungsfigur und ineffektive Zentralisation, regenerieren konnten.

Eine Legende geht davon aus, dass die russische Wirtschaft nach 1991 einen Zusammenbruch erlitten hat. Bereinigt von statistischen Manipulationen der Planwirtschaft bewegte sich die UdSSR indes Ende der 80er auf dem Entwicklungsniveau Brasiliens. Zur Erinnerung: Ökonomische Mängel zwangen die Kommunistische Partei, den Kurs ab 1985 zu ändern. Heute steht Russland wieder gleichauf mit Brasilien. Es ist ebenso ein weit verbreiteter Irrtum, die Schwierigkeiten der postsowjetischen Periode allein auf Auswirkungen der „Schocktherapie“ zurückzuführen. Moskau ging im Vergleich mit anderen Osteuropäern, die heute mit besseren Ergebnissen aufwarten können, behutsam vor. Die wirtschaftlichen Eliten ließen sich bis zur Rubelkrise 1998 vom Zentrum subventionieren. Bartergeschäfte, der geldlose Tausch von Waren gegen Waren, waren nicht nur ein bodenloses Fass staatlicher Zuwendungen, sie förderten auch die Korruption. Seit der Finanzkrise sind Geschäftspraktiken der „virtuellen Ökonomie“ erheblich zurückgegangen. Nun wird richtiges Geld verdient. Die Korruption bleibt aber weiterhin ein Problem. Die Annahme indes, die Privatisierung sei Ursache des Übels, hält einer Prüfung nicht stand. Je schneller und umfassender eingegriffen wurde, desto deutlicher sank die Korruptionsanfälligkeit. Das zeigte sich zumindest in anderen Ökonomien. Dass in Russland Bakschisch eine Selbstverständlichkeit ist, hängt vielmehr mit der schwachen Rechtsbasis und der Allmacht der unreformierten Bürokratie zusammen, die sich nach Gutdünken in die Wirtschaft einmischen kann. Daher ist die Stärkung des Staates, wie sie Präsident Putin anstrebt, höchst ambivalent.

Wer den Zustand der Infrastruktur, die Ruinenlandschaft der UdSSR kannte und es mit heute vergleicht, der müsste staunen. Ein Bauboom überzieht das ganze Land, nicht nur die städtischen Zentren. Für Russland, das sprichwörtlich unter „zu vielen Idioten und schlechten Straßen“ zu leiden hatte, ist das keine Nebensächlichkeit. Ein Fünftel des Bruttoinlandsprodukts wurde im letzten Jahr allein in den Aufbau der Infrastruktur investiert. Oft entsprechen die Wahrnehmungen nicht der Wirklichkeit. Nie gaben die Russen so viel für Medizin wie heute. Die Kennziffern, mit denen die WHO den Zustand eines Gesundheitswesens bemisst, haben sich seit zehn Jahren nicht verschlechtert. Dass russische Frauen weniger und später gebären, sollte das ein Zeichen von Regression sein?

Eines Tages könnte Russland vor der Tür zum Westen stehen, ohne es ausdrücklich gewollt zu haben

Dennoch, um die zivile Gesellschaft steht es immer noch nicht gut. Aber es gibt sie, auch wenn hartnäckig geleugnet. Heute sind es nicht mehr die moralischen Überväter und schillernden Dissidenten, die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Die Gesellschaft hat sich ausdifferenziert und individualisiert. Darauf wies ausgerechnet die Vorsitzende der Moskauer Helsinki-Menschenrechtsgruppe hin. Ein Heer von Rechtsberatern habe inzwischen landesweit zu arbeiten begonnen und so etwas wie ein Rechtshilfesystem entwickelt. Das sei die wahre Keimzelle der Bürgergesellschaft.

Lässt sich Russland mit dem Verstand nicht begreifen, muss man daran einfach glauben. Mit dieser Behauptung hat der Dichter Tjutschew Generationen von Denkfaulen eine willkommene Ausrede geliefert. Russland lässt sich begreifen! Man muss nur den Schleier der Sozialromantik lüften. KLAUS-HELGE DONATH