Gedenkfeier im kleinen Kreis

Zum zehnten Jahrestag des Putsches ließen sich die Mächtigen in Moskau nicht blicken. Der Kreml will lieber mit einem eigenen Volksfest die Größe Russlands feiern

MOSKAU taz ■ „Barrikadniki, Brüder, euer Gewissen und eure Ehre werden in Russland immer gebraucht!“ steht auf dem riesigen Transparent, das Sergej in die Luft hält. Aus seiner Gruppe, die am 19. August 1991 den demokratischen Aufbruch Russlands gegen den Putschversuch eines orthodox kommunistischen „Notstandskomitees“ auf den Barrikaden des Weißen Hauses verteidigte, ist zur gestrigen Gedenkfeier niemand erschienen. „Immerhin“, meint der Rentner, „waren wir damals über 80 Mann.“ Vielen gehe es heute wohl besser, sinniert er, das sei wohl der Grund, warum die Vergangenheit in Vergessenheit gerate.

Für Sergej bedeutet das Datum immer noch viel. Es war nicht nur die Geburtsstunde der russischen Demokratie. „ An diesem Tag“, sagt er, „wurde in Russland das Individuum geboren.“

Nur einige hundert Demonstranten hatten sich gestern vor dem Weißen Haus versammelt. Ehemalige Barrikadniki, denen man ansah, dass sie nach der Verteidigung ihrer Hoffnungen nicht gerade das große Los gezogen haben. Die Gewinner der Reformen ließen sich nicht blicken. Mit ein wenig mehr Resonanz hatten die Organisatoren schon gerechnet. Das „Georgs-Korps“, eine Bürgerinitiative aus ehemaligen Gliedern des lebendigen Schutzringes ums Weiße Haus, hatte seit Juni aufwendige Vorbereitungen getroffen. Dimitri Boitschenko, einer ihrer Köpfe, hofft immer noch, dass sich aus dem Veteranenkreis eine NGO entwickeln lässt, „die die demokratischen Versäumnisse aufholt und einklagt, weswegen wir auf die Straße gegangen sind“.

Boitschko ist Mitte dreißig und ein „gemachter Mann“. Als Vizechef der ersten noch zu Sowjetzeiten gegründeten privaten Securityfirma „Alex“ müsste er längst ausgesorgt haben. Er macht bewusst auf bescheiden. „Alex“ übernahm damals auch die Logistik der Verteidigung des Parlaments. Politisch hat sich Boitschenko danach nicht mehr engagiert. Ihn beunruhige, was heute in den Sicherheitsorganen vor sich gehe. Darum setze er sich ein. Signale aus dem Umkreis des Kreml verhießen nichts Gutes. Obwohl er als Manager von den Liberalisierungen profitieren konnte, ist er mit den Reformen unzufrieden. „Nach wie vor herrscht bürokratische Willkür, Tendenz steigend.“

Im Kreml stieß das Unternehmen auf Ablehnung. Dort möchte man nicht daran erinnert werden, dass der Geheimdienst KGB damals hinter dem Putsch stand. Ganz übergehen ließ sich das Datum aber nicht. Am 22. August veranstaltet der Kreml daher ein riesiges Volksfest. Da wird vor allem von der Größe Russlands und dem Ruhm seines Präsidenten die Rede sein. Das wollte Boitschenko eben nicht. Der mündige Bürger vom 19. August 1991 sollte zum Vorbild werden.

Noch hat sich der Kreml nicht entschieden, wen er braucht, den mündigen oder den fahnenschwenkenden Untertan. Das würde erklären, warum die Staatsmedien die Initaitive Boitschenkos boykottiert haben. Egal, meint Boitschenko. Er wartet jetzt darauf, was der Präsident zum Putsch zu sagen hat.

KLAUS-HELGE DONATH

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