Mata Hari und Egon Krenz’ Stützstrümpfe

Hunderte von Ordnern zeugen im Moabiter Kammergericht von Verbrechen und Attentaten, Skandalen und Affären

Karl May, der Schöpfer Winnetous, kam am 18. Dezember 1911 als Zeuge ins Moabiter Kriminalgericht. Acht Jahrzehnte später saß der bundesweit bekannte Kaufhauserpresser Arno Funke alias Dagobert in dem historischen Gebäude auf der Anklagebank. Ebenfalls in den 90er-Jahren nahm dort der letzte DDR-Staatschef Egon Krenz in seinem Prozess wegen Totschlags an DDR-Flüchtlingen Platz.

Die Lebensläufe der drei so verschiedenen Prominenten kreuzen sich in einem einzigartigen Archiv: Im Berliner Kriminalgericht lagern tausende Stücke aus der Welt der Justiz. Berichte über Todesurteile bis zu Notizen über Freigänger Krenz als Vertreter für Stützstrümpfe gehören zu einer täglich wachsenden Sammlung der Justizpressestelle des europaweit größten Gerichts.

Die 1927 eingerichtete Nahtstelle ist Spiegel menschlicher Schicksale und sozialpolitischer Ereignisse. Der falsche Hauptmann von Köpenick, die britischen Posträuber, die als Spionin in Frankreich hingerichtete Mata Hari – hunderte von Ordnern zeugen von Verbrechen, Attentaten, Skandalen und Affären, von Opfern und Tätern.

Im Keller des Gerichtskomplexes lagern die Jahrgänge aller Berliner Tageszeitungen seit Kriegsende. Zwei Etagen höher, in der Justizpressestelle, findet sich Material über den früheren DDR-Machthaber Erich Honecker in alphabetischer Reihenfolge neben Hütchenspielern.

Unzählige Dokumente bezeugen die Aufarbeitung nach der Wende: Politbüro, Grenzkommandeure, Mauerschützen, Rechtsbeugung, Doping und Vereinigungskriminalität sind die Themen. Daneben stehen bewegende Schicksale vor dem Mauerbau 1961 wie das Tauziehen um ein 1956 in West-Berlin geborenes Mädchen. Nach erbittertem Rechtsstreit mit der im Osten lebenden Mutter durfte das Kind 1967 selbst entscheiden und blieb bei der Großmutter im Westen.

Neben Hochverrat, Spionage, Mafia, Mord und Totschlag sammelt die Justiz auch Ereignisse aus den Haftanstalten. Zwischen „Randalierer im Gefängnis, Hungerstreik und Ausbrüche“ finden sich „Hochzeiten, Verlobungen, Entbindungen und sonstiges Privatleben“.

In unmittelbarer Nähe steht ein schmaler Band „Frauen in der Justiz“. Darin ist eine Meldung von 1945: „Ein neuer Frauenberuf – Rechtspflegerin“, und schließlich 1987: „Frauenanteil in der Justiz nimmt zu“. Frauen sind seit Jahrzehnten die Hüterinnen des Archivs. Ohne die Mitarbeiterinnen der Pressestelle könnte sich kein Staatsanwalt, Richter oder Journalist im Dschungel der Papiermassen zurechtfinden.

CORNELIA HEROLD, DPA