Der lange Abschied

Richard J. Evans’ „Rituale der Vergeltung“ ist das neue Standardwerk über die Geschichte der Todesstrafe in Deutschland. Es verknüpft individuelle Erfahrungen und gesellschaftliche Debatten zu einer ebenso gewagten wie gelungenen Gesamtschau

von REBEKKA HABERMAS

Um es ohne Umschweife zu sagen: Richard Evans’ monumentales Buch „Rituale der Vergeltung. Die Todesstrafe in der deutschen Geschichte 1532–1987“ ist schon heute ein Standardwerk. Inhaltlich die beste Gesamtschau und Detailstudie zugleich; methodisch eine Herausforderung, da Evans versucht Sozial-, Diskurs-, Erfahrungs- und Kulturgeschichte zu verbinden – und das auf theoretisch hohem Niveau.

Evans 1.300-Seiten-Opus beginnt im 16. Jahrhundert, in dem zwar viele Delikte mit dem Tod bestraft werden sollten – allen voran Raub, Totschlag, Inzest, Kindsmord, Hexerei und Sodomie –, faktisch freilich nur ein Bruchteil der TäterInnen vor Gericht kam, da der frühneuzeitliche Staat und auch die Bevölkerung eine andere Vorstellung von Strafverfolgung hatten. Überdies spielten Gnadenerweise eine erhebliche Rolle.

Die Art der Todesstrafe variierte je nach Stand, Geschlecht und Alter und natürlich auch nach Delikt, sei es, dass man gerädert, verbrannt, gehenkt oder mit dem Schwert hingerichtet wurde. Ziel war, die durch die Tat verletzte göttliche Ordnung dadurch wiederherzustellen: Der Delinquent sollte seiner Ehre verlustig gehen und dennoch im jenseitigen Leben Erlösung von seiner Untat finden können. Die Hinrichtungen waren ein wohl geordnetes und aus einer ganzen Reihe religiöser Rituale bestehendes Theater des Schreckens, das sich unter der regen Anteilnahme der Bevölkerung vollzog. Allerdings waren Hinrichtungen in der Frühen Neuzeit lange nicht so häufig, wie manch aufgeklärter Jurist im 19. Jahrhundert glauben machen wollte. Mehr noch: Seit etwa dem 17. Jahrhundert, also mehr als 100 Jahre bevor es zu einer ersten massiven Kritik an der Todesstrafe kam, sank die Zahl der vollzogenen Todesstrafen kontinuierlich. Als Beccaria 1764 in einem Plädoyer gegen die Todesstrafe forderte, Strafe sollte nicht länger als göttliche Vergeltung, in Termini von Ehrverlust verstanden werden, sondern auf den Grundsätzen der Vernunft basieren – da hatte sich die Praxis des Strafens längst geändert.

Die Todesstrafe schreckte Täter nie ab

Die Kritik an der Todesstrafe wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts noch deutlicher und auch grundsätzlicher, verband sich mit zentralen politischen Themen und wurde symbolisch vielfach aufgeladen. Zusehends in den Mittelpunkt rückten nun die Psyche und die sozialen Hintergründe des Delinquenten, und nicht wenige Gelehrte kamen zu der Überzeugung, dass es in einem modernen bürgerlichen Rechtsstaat – und genau den strebte man an – Ziel einer Strafe sein müsse, die Verbrecher zu verändern, sie zu verbessern und eben nicht Rache und Vergeltung zu üben. Überdies sei die Hinrichtung mitnichten von abschreckender Wirkung. Und die Todesstrafe das letzte Relikt eines altständischen Rechtswesen, welches durch Willkür und Brutalität gekennzeichnet sei. Kurzum: Die Abschaffung der Todesstrafe wurde zu einem zentralen Dogma des politischen Liberalismus (im übrigen: nur in Deutschland). Die Liberalen konnten diese Auffassung – kurzfristig – auch durchsetzen: 1848 wurde die Abschaffung der Todesstrafe in den Menschenrechtskatalog aufgenommen.

Nach der Niederschlagung der Revolutionen von 1848 und 1849 wurde die Todesstrafe de jure wieder eingeführt. Für Mord und Hochverrat sollte sie erneut verhängt werden. Faktisch kam es jedoch selten zum Vollzug der Todesstrafe, was vor allem an der großzügigen Begnadigungspraxis lag, die allerdings je nach Landesherr unterschiedlich gehandhabt wurde. Durch diese häufig genutzte Option zur Begnadigung wurde die Todestrafe einerseits zum Ausweis der Souveränität des Herrschers, zum andern faktisch, wie beispielsweise die Zunahme der Todesurteile unter Wilhelm I. verdeutlicht, an seinen persönlichen Willen gebunden. Als Wilhelm I. 1878 nur durch Zufall gleich zwei Attentaten entging und die Furcht vor vermeintlich überall auflauernden Anarchisten immer größer wurde – ganz zu schweigen von den Ängsten vor Sozialdemokraten oder auch schlicht vor den vermeintlich sittlich vollkommen verwahrlosten Arbeitern und Mägden, die insbesondere in den Großstädten überhand zu nehmen drohten – unterzeichnete er zusehends mehr Todesurteile.

Blieb die Debatte um die Todesstrafe – nach dem kurzen Intermezzo von 1848 – auch folgenlos, so veränderte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts der öffentliche Umgang mit Hinrichtungen: Sie fanden seit 1850er-Jahren nicht mehr auf Plätzen statt, da – so das besorgte Bürgertum – diese Schauspiele das „natürliche Schamempfinden“ stören, überdies könne sich der Pöbel aufgestachelt fühlen oder fast noch schlimmer: Mitleid mit dem Delinquenten bekommen.

Die Presse berichtete gern über Henker

Gleichzeitig professionalisierte sich der Beruf des Scharfrichters, der zwar immer noch wie in der frühen Neuzeit im Geruch des unehrenhaften Handwerks stand, nun jedoch ein besoldeter Beamter war, der sich überdies ein Zubrot dadurch verdienen konnte, dass er die Presse mit einschlägigen Berichten versorgte. Die neu entstandene Massenpresse hatte nämlich ein enormes Interesse an Hinrichtungen. Äußerst anschaulich wurde das Genre der „human interest stories“ mit allerlei Hintergrundberichten über die Gehängten und ihre Henker versorgt. Damit freilich unterliefen die Massenblätter genau das, was mit der Einführung der Hinrichtungen hinter Mauern versucht werden sollte: Der Ausschluss der breiten Öffentlichkeit von den Hinrichtungen.

Mit dem 20. Jahrhundert änderte sich schließlich auch de jure die Todesstrafe. Nach dem Ersten Weltkrieg weiteten die Sozialdemokraten, die bisher stets die schärfsten Kritiker der Todesstarfe gewesen waren, unter dem Eindruck der blutigen Auseinandersetzungen der 20er-Jahre, die Todesstrafe auch auf politische Morde aus. Gleichzeitig feilten Mediziner, Psychiater und Eugeniker an Konzepten, in denen das Erbgut und die so genannte minderwertige Rasse zunehmend Bedeutung gewannen. Wie weit diese Konzepte auch in der Bevölkerung Widerhall fanden, bleibt bei Evans leider offen. Deutlich ist jedoch, dass das allgemeine Interesse am Mord – und vor allem am Lustmord – in der Weimarer Republik stetig anwuchs und eine breite Öffentlichkeit die heute noch berühmten Prozesse der einschlägigen „Lustmörder“ – erinnert sei etwa an den Fall Haarmann – mit größter Aufmerksamkeit verfolgte.

1933 trat die Geschichte der Todesstrafe in ein neues Stadium – mit der „Lex van der Lubbe“ Rückwirkend wurde nun die Todesstrafe auf Giftmord, Brandstiftung, Aufruhr und Geiselnahme ausgedehnt. Der Grundsatz des Rechtsstaates, nulla poena sine lege (ohne Gesetz keine Strafe), war mit Füßen getreten worden. Doch das war nur der Anfang. Während der nationalsozialistischen Herrschaft wuchs die Zahl der mit dem Tod zu ahndenden Delikte stetig an, zudem veränderte sich deren Bedeutung insofern, als sie nun als rassische Notwehr Teil einer negativen Eugenik wurde. Unter diese fielen nun „Gewohnheitsverbrecher“, so genannte gemeingefährliche Sittlichkeitsverbrecher aber auch Personen, die man deshalb als asozial bezeichnete, weil sie Alkoholiker, Rowdys oder notorische Nörgler waren.

Nach 1945 wollten die Alliierten die Todesstrafe

Nach dem Krieg sahen die siegreichen Alliierten, keinen Grund, die Todesstrafe abzuschaffen, ja sie waren allesamt sogar deren Verfechter – in Frankreich war es erst 1939 zur letzten öffentlichen Enthauptung mittels Guillotine gekommen. Dass schließlich mit dem Grundgesetz doch noch die Todesstrafe abgeschafft wurde, war eine kleine Überraschung, zumal sich der Paragraf 102 – so die Ironie der Geschichte – unter anderem dem Bemühen eines Parlamentariers von Rechtsaußen verdankte, der damit in erster Linie die deutschen Kriegsverbrecher vor dem Tod retten wollte. Die bundesrepublikanische Gesellschaft brauchte noch Jahrzehnte, um die Abschaffung zu akzeptieren: 1949 waren 77 Prozent der Bevölkerung für die Todesstrafe; 1972 waren es noch 33 und 1992 24 Prozent. In der DDR wurde sie erst 1987 abgeschafft, wie Evans ausführlich in einem Kapitel darstellt.

Evans’ Untersuchung mündet in eine resümierende Auseinandersetzung mit Foucault, Elias und Ariès, wobei er die These entwickelt, dass die entscheidenden Veränderungen bezüglich der Todesstrafe auf eine veränderte Einstellung zum Tod zurückzuführen sei, die im Zusammenhang mit der Säkularisierung stehe. Nur so habe die Idee entstehen können, dass es kein jenseitiges Leben gäbe. Damit habe die Todesstrafe einen Teil ihres Sinnes verloren, und es hätte sich die Möglichkeit eröffnet, den Sinn der Todesstrafe infrage zu stellen. Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, dass Kirchenvertreter bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den hartnäckigsten Befürwortern der Todesstrafe gehörten, während Sozialdemokraten, die am stärksten säkularisierte Gruppe, zumindest im 19. Jahrhundert in der Regel gegen die Todesstrafe kämpften.

Die Todesstrafe war Symbol der Macht

So plausibel die These auch ist, viele Fragen bleiben offen: Säkularisierung hin, Säkularisierng her, wie kann damit die in den verschiedenen europäischen Ländern sehr unterschiedliche Geschichte der Todesstrafe erklärt werden – ganz zu schweigen von den Vereinigten Staaten? In welchem Zusammenhang dazu steht die von Evans überzeugend entwickelte These, dass die Todesstrafe nur in Deutschland – besonders im 19. Jahrhundert – „zum machtvollen Symbol für Souveränität, Autorität und die Ablehnung liberaler Überzeugung wie Toleranz, politischer Mitwirkung und Freiheit des Einzelnen“ wurde? Das setzte doch voraus, dass die massive Berichterstattung über Hinrichtungen im Gefängnis wirklich das öffentliche Spektakel ersetzte.

Solche Fragen machen auf mindestens zwei grundsätzliche Probleme dieser Gesamtschau aufmerksam. Erstens sind Evans Versuche, „Volkstümliches“ zu rekonstruieren, problematisch, da er der Komplexität von Rezeptionsprozessen nicht Rechnung trägt. Stattdessen zieht er Schlüsse auf eine Veränderung mentaler Dispositionen im Allgemeinen und auf einem Wandel hinsichtlich der Einstellung zu Hinrichtungen im Besonderen aus inhaltlichen Akzentverschiebungen bei Hinrichtungsdarstellungen, wie sie auf frühneuzeitlichen Flugblättern und in Bänkelliedern zu finden sind. Dabei berücksichtigt er zudem nicht, dass sich „Volkskultur“ und „Elitenkultur“ wohl kaum trennscharf definieren lassen. Evans muss sich fragen lassen, wie genau er denn die schwierige Frage nach den Interaktionen zwischen diesen Kulturen beschreiben will, die er für das 19. Jahrhundert so säuberlich geschieden hat. Dafür bietet sein in der Einleitung propagierter fröhlicher Synkretismus aus Erfahrungs-, Diskurs- und Kulturgeschichte kein Modell. Das hat zur Folge, dass unter der Hand altbekannte geistesgeschichtliche Vorstellungen wieder zum Tragen kommen, wonach es die hehren Ideen der wenigen sind, die dann die soziale Praxis der vielen bestimmen.

Evans gibt der Debatte eine neue Basis

Weil ein Modell, das Erfahrung und Diskurs miteinander verbindet, fehlt, bleibt zweitens das schwierige Problem der Andersartigkeit, ja Fremdheit von Erfahrungen bestehen, das eng auch mit Darstellungsfragen verbunden ist. Das wird etwa deutlich in den teilweise brillant erzählten Kriminalfällen. Hier nämlich fragt sich die Leserin, worin sich eigentlich ihre Neugierde an Haarmann von der seiner Zeitgenossen unterscheidet. Und: Wie verhält es sich verglichen damit mit der Neugierde der frühneuzeitlichen Zuschauer an einer Exekution. Daran schließt sich die weitere Frage an, mit welchen Narrationsverfahren historische Erfahrungen erfassbar gemacht wird. Evans jedenfalls bietet hierauf keine überzeugenden Antworten, sondern schreibt in seinen weit gehend illustrativ eingesetzten erzählerischen Passagen schlichte Klischees fort: Erneut folgt damit dem so tief befremdlichen 17. und 18. Jahrhundert ein allzu bekanntes und überaus verständliches 19. Jahrhundert.

Doch diese Einwände – und die stets richtige Feststellung: weniger wäre mehr gewesen – vermögen nichts an der Tatsache zu ändern: „Rituale der Vergeltung“ ist ein Standardwerk ersten Ranges. Evans Gesamtschau fördert neue Ergebnisse auf der Grundlage intensiver Archivrecherchen zutage und fügt sehr unterschiedliche Forschungsergebnisse zusammen. Im Übrigen ist die deutsche Ausgabe mit neuer Literatur versehen – es fehlt freilich der just publizierte einzige Konkurrenztitel von Jürgen Martschukat (siehe Rezension in der taz, 8. 5. 2001). Zudem wirft Evans über die Geschichte der Todesstrafe Fragen darüber auf, wie eine künftige Geschichtswissenschaft aussehen kann, die vor einer „histoire totale“ nicht zurückschreckt – und doch die allzu modisch gewordenen Begriffe von Diskurs und Erfahrung nicht bloß nebeneinander, sondern auf eine neue Basis stellt.

Richard Evans: „Rituale der Vergeltung. Die Todesstrafe in der deutschen Geschichte 1532–1987“. Kindler/Hamburger Edition, Berlin 2001, 99,90 DM (45,90 €)Rebekka Habermas ist Professorin für Mittlere und Neuere Geschichte in Göttingen und Mitherausgeberin der Zeitschrift „Historische Anthropologie“.