Explodierender Schaum

Die Umwertung aller Werte: Wenn drei Halbliter Gottesflüssigkeit den Kopf lahm legen

Es fing mit einem seltsamen Brummen an. Früh, gegen zehn, wenn man schon eine knappe Stunde vor dem Computer hockt. Ein sehr seltsames Brummen, welches nicht nur die Kopfinnereien, sondern den ganzen Organträger auf eine äußerst unangenehme Weise lahm legt. Wie soll man da arbeiten? Törichte Leser bringen jetzt sofort den Begriff Kater ein, um unserer Diskussion eine pejorative Wendung zu geben. Damit wäre meine Jeremiade vorzeitig am Ende, denn das Thematisieren von Katerbeschwerden wird bei Autoren mit dem Abtrennen sämtlicher Fingerkuppen der Schreibhand geahndet. Zu Recht. Allerdings, so viel Recht muss sein, lassen sich meine Beschwerden eindeutig mit dem Alkoholgenuss in Verbindung bringen.

Wichtig ist für mich die Flüssigkeitsmenge. Schon als vorstimmbrüchiger Bube trank ich bisweilen einen ganzen Kasten köstlicher Fruchtsaftlimonade pro Tag, wenn es das Wetter und die Finanzen der Erziehungsberechtigten zuließen. Ich kenne aber wenige Menschen, die den Verzehr von Fruchtsaftlimonade nach dem Stimmbruch fortgesetzt haben. Stattdessen war es das anfangs so eklig bitter, bald umso köstlicher schmeckende Pilsnerbier, das meinen Konsumwünschen entgegenkam. Denn Bier ist ideal. Schwarzer Tee, Wein, Spirituosen – Fehlanzeige. Nur Bier kann man mit wachsender Freude in nahezu unendlichen Mengen genießen. Denn Trinken ist eine der schönsten Verrichtungen, mit der uns die Natur beauftragt hat. Andere Flüssigkeiten nippt man ja. Nippen ist doch furchtbar.

Weiterhin wichtig ist der Geschmack. Wut und Weltenschmerz fallen seit jeher als Trinkgrund für mich aus. Kummertrinken? Ein Fremdwort. Oder das Trinken als notwendiger Katalysator für Geselligkeit und harmonisches Gespräch? Nö. Wie auch der Rausch niemals Trinkziel sein darf. Obwohl Alkohol schmeckt. Einwandfrei. Jeder, der mal Clausthaler getrunken hat, weiß das. Man trinkt, um zu schmecken. Man trinkt, um zu trinken. Alles andere ist von Übel.

Trotzdem spielt die Natur mir diesen bösen Streich. Drei Halbliterflaschen köstlichen Pilsnerbieres reichen völlig zu, meinen Wahrnehmungsapparat weitestgehend lahm zu legen. Vor einem halben Jahr waren es noch vier, vor einem Jahr fünf. Den folgenden Tag kann ich komplett vergessen. Zwar wache ich regulär auf, doch nach zwei Stunden Wachsein erobern mich die Beschwerden. Weltallgroß ist die Verzweiflung. Mikrobisch winzig jedoch die Fähigkeit, mit der Erscheinungswelt ins Reine zu kommen. Grausam. Gegenproben mit Wein- und Spirituosenalkohol ergaben einen äquivalenten Schwellenwert. Am köstlichen Pilsnerbier liegt es also nicht. Testreihen konnten lückenlos belegen: zwei halbe Liter dürfen derzeit als gefahrlos gelten. Jedoch ein Schluck mehr, zum Beispiel, wenn man der Herzensdame den explodierenden Schaum absaugen hilft, und schon ist das Übel überall.

Der ganz gewöhnliche Kater ist ja eine Art Bestrafung für den Übermut. Als Gelegenheitsprotestant unterschreibe ich diese These auf der Stelle. Damit hat man sich im Lauf einer engagierten Trinklaufbahn arrangiert. Nicht arrangieren kann und darf man sich mit einer Kontamination, welche die Parameter des gewöhnlichen Katers mühelos vertausendfacht. Was hat da in mir stattgefunden? Eine Umwertung aller Leberwerte? Die sauberen Herren Ärzte wiegeln ab. Sie finden nix. Was ist daran sinnvoll, wenn die Abbauphase von zwei Flaschen köstlichsten Pilsnerbieres diejenige von zehn oder elf Einheiten derselben Gottesflüssigkeit um ein Vielfaches an Ekligkeit und auch geistiger Pein übertrifft? Zum körperlichen Jammer gesellt sich nämlich zwangsläufig der Ärger über diese ausgebuffte Ungerechtigkeit, der im Lauf des Tages sukzessiv in Wut umschlägt. Man möchte sich die Schneidezähne rausbiegen, mit den Scorpions malträtieren oder Verbrennungen neunten Grades zufügen, nur um Ablenkungsschmerzen zu inszenieren. Die empfohlenen Stützbiere führen höchstens in den verhassten Rausch. Ein Teufelskreis. Man ist nicht mehr. So kann das Gott Gambrinus kaum gewollt haben.

Neuerdings habe ich ein Fünkchen Hoffnung. Wenn der Prozess weiter in dieser Richtung und Geschwindigkeit fortschreitet, muss die Bierrezeptivität bald auf null gesunken sein. Vielleicht geht es dann von vorn los. Zwanzig Halbe köstlichen Pilsnerbieres auf einen Hieb, wie früher mit der Fruchtsaftlimo. Endlich wieder trinken, um zu trinken. Und zu schmecken. Und wieder sein! MICHAEL RUDOLF