Mitten in Europa

Letzte Woche reiste der Kanzler entlang der Oder. Diese Region ist der politischste Raum, der sich denken lässt. Lange war er marginalisiert, aber das könnte sich bald ändern

Eine Geschichte der Oder erzählte von einem wachsenden und immer wieder zerstörten Zusammenhang.

Fast alle großen Flüsse haben ihre Biografen und Historiografen gefunden. Es gibt eine reiche Literatur zu den europäischen Strömen, jedenfalls zu einigen der prominentesten wie Rhein (Lucien Febvre), Donau (Claudio Magris) und Weichsel (Norman Davies). Die Oder gehört zu den vergessenen, wenig beleuchteten Flüssen in Europa, jedenfalls bis zur jüngsten Zeit. Sie hat keine Dichter, die sie besingen. Sie hat keinen Mythos. Ihre größte Prominenz hat sie erreicht in der politischen Hochsprache: Oder-Neiße-Grenze. Die Oder ist für mehr als eine Generation zu einem „tragischen“, zu einem Schicksalsstrom geworden, zum Symbol für Heimatverlust. Es gibt eine asymmetrische Existenz der Oder/Odra im deutschen/polnischen Gedächtnis, im einen Fall handelt es sich um die Vergangenheit, im anderen um die blanke Gegenwart, um die Zukunft.

Die Oder selbst, die nicht wirklich in der kollektiven Erinnerung vorhanden war, ist in sie zurückgekehrt, und zwar in der Form, die einem Fluss am angemessensten ist: mit der Überschwemmung im Sommer 1997. Jetzt ist es wieder still geworden um die Oder oder genauer: Sie führt eine Existenz nach dem Hochwasser, sie ist wieder in ihr Flussbett zurückgetreten. Alles wie gehabt? Nein, nicht mehr: Die neue Situation in Europa weist dem Fluss eine neue Rolle zu. Ob Hochwasser oder nicht – die Vergesellschaftung zwingt die Menschen auf beiden Seiten des Flusses, sich mit ihm erneut und neu auseinander zusetzen.

Die Literatur zur Oder spiegelt exakt ihre Geschichte wider. Die Literatur ist praktisch zwei- oder dreigeteilt. Bis zum Krieg ist sie wesentlich deutsch, nach dem Krieg wesentlich, ja ausschließlich polnisch. Die dritte Gruppe ist neueren Datums. Sie reflektiert auf ihre Weise den Stand der Dinge: die Renaturalisierung der Oder – der Fluss als Biotop, als Nationalpark, als Reservat und Schutzzone außerhalb des Menschenverkehrs, eine Literatur der Melancholie und Idylle. Die Oder wurde zum je länger, desto mehr entpolitisierten und entideologisierten Naturraum. Dabei ist dieser Naturraum der politischste Raum, der sich denken lässt: Er dokumentiert den Zusammenbruch einer Kulturlandschaft, die der Fluss einmal gewesen war.

Die Oder war nie Grenze, schon gar nicht eine „natürliche“ Grenze. Der Verkehr und Handel hat den Strom an wichtigen Stellen gequert. Sie war ein Gewässer in einem Übergangsland. Die Oder wurde Demarkationslinie in der Folge des Zweiten Weltkrieges. Sie war eine mehr oder weniger willkürliche Grenze, diktiert von den Alliierten und gegen den Widerstand großer Teile der politischen Elite Nachkriegspolens. Die Oder wurde zur Demarkation, die den Verkehr von Menschen, Gütern, Ideen unterband. Und das hat Folgen gehabt. Für das Verhältnis zur Nachbarschaft, für den Städtebau, für den Lebenshorizont. Es ist ein langer Prozess der Normalisierung, aus einer Demarkationslinie eine Grenze zu machen, eine normale Erscheinung zwischen souveränen Staaten. Die Oder-Neiße-Grenze war eine Chiffre für das Nachkriegseuropa, für die politische und dann auch mentale Neugliederung.

Im 20. Jahrhundert wurde die deutsche Ostgrenze nach einer gewaltigen Überdehnung nach Osten und einem radikalen Pendelausschlag nach Westen verschoben. Sie verlief nach dem Ersten Weltkrieg 1918 ungefähr da, wo 1772 die Teilerei Polens begonnen hatte, und sie endete 1945 da, wo vor 1.000 Jahren die Grenzen des piastischen Polens verliefen. In dieser Gegenbewegung wurden mit der gewalttätigen Neulozierung Polens – der Westverschiebung – auch die Ergebnisse von 800 Jahren Geschichte der Deutschen im Osten eliminiert. In einer Umsiedlungs- und Austreibungsaktion größten Ausmaßes, sanktioniert durch Artikel XIII des Potsdamer Abkommens, kommt die „Bereinigung der ethnografischen Landkarte“, wie Hitler das genannt und seit dem Überfall auf Polen praktiziert hatte, zum Abschluss.

Diese Grenze ist nicht die Wiederherstellung eines „natürlichen“ Zustandes, sondern das Resultat der vom nationalsozialistischen Deutschland entfesselten Gewalt und der Schlussfolgerungen, die die Alliierten in Teheran und Jalta daraus zogen. Sie ist das Resultat der „Revolutionierung der europäischen Machtverhältnisse“ auf den Ruinen der vom Dritten Reich zerstörten Staatenwelt. Die Geschichte des Raums erschließt sich erst jenseits der nationalistischen Diskurse. Sie ist alles andere als ein ununterbrochener Kampf zwischen Deutschen und Polen, zwischen Slawen und Germanen. Sie ist die Geschichte eines Grenzraumes mit einer doppelten, wenn nicht mehrfachen Sprache und Kultur, nicht von Nationen, sondern von Reichen und dynastischen Zusammenhängen, von übergreifender Strukturentwicklung und kultureller Prägung, die bis heute wirksam ist.

Der Oderraum ist ein Raum wechselseitiger Durchdringung gewesen mit historisch sich verändernden Grenzen. Es geht um die Rekonstruktion dieses Verlaufs und deren Anerkennung, nicht um die Ableitung eines unhistorischen Erstanspruchs. Von ihren natürlichen Gegebenheiten her bildet die Oder keinen kohärenten Raum, sie ist keine staatsbildende oder kulturraumbildende Achse gewesen oder geworden. In ihrem Bassin treffen sich die Peripherien übernationaler dynastischer Zusammenhänge: der Piasten, der Luxemburger, der Hohenzollern, der Habsburger. Die Oderregion orientiert sich geistig, kulturell, politisch an Zentren außerhalb der Region: Prag, Wien, Krakau, Stockholm, Berlin, Warschau. Das 19. und vor allem das 20. Jahrhundert „nationalisiert“ den Strom bis zur Unkenntlichkeit. Aus einer jahrhundertelangen Grenzlandschaft mit starken Überlappungen und Gemengelagen wird ein kulturell gesäuberter, homogenisierter Raum. Die Verflechtung des Raumes mit Europa – und darin spielt die Modernisierung der Oder eine zentrale Rolle – fällt dem aggressiven deutschen Expansionismus zum Opfer und dann der Welt von Jalta. Wie keine andere Region ist der Oderraum von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts getroffen worden. Aus einer Zone, die eigentlich nie trennte, wurde eine Grenze. Aus stolzen Provinzen wurden der Hinterhof und die Mauer, denen man den Rücken zuwendet.

Natürlich handelt es sich weit gehend um die Konsequenz dessen, was die Deutschen zuvor in Polen angerichtet hatten – aber nicht nur. Es handelt sich um die Verpflanzung von etwa zehn Millionen Menschen von östlich der Oder-Neiße-Linie nach Westen. Um den bis dahin größten gewaltsamen „Transfer“ einer ganzen Volksgruppe. Gewöhnlich sind das Ausgangspunkte tiefer Verwundungen, sozialer und nationaler Traumatisierungen. Sie finden ihren Ausdruck in einer starken Beziehung zur alten Heimat, als Heimat- und Heimwehtourismus.

Doch Erinnerung ist nichts Statisches, Schematisches, sondern etwas, was sich mit der Zeit verändert. Am massivsten zwischen den Generationen. Die alten Erinnerungen werden überlagert von neuen Eindrücken. Die Oder wird – ob Hochwasser herrscht oder nicht – mehr und mehr ihre peripherische Existenz verlieren. Je mehr das mittlere und östliche Europa an Bedeutung gewinnen wird, je mehr es in den Lebenshorizont der Deutschen treten wird, desto sicherer ist die Präsenz der Oder. Die „mental maps“ werden neu gezeichnet.

Die Oder war nie eine „natürliche“ Grenze. Sie war stets einGewässer in einemÜbergangsland.

Die Oder wird vermutlich nie jene zentrale Rolle spielen wie Donau oder Rhein. Aber ihre Rolle wird auch hier bedeutend sein, vor allem zwischen Breslau und Stettin einerseits und Berlin andererseits. Die Oder bezeichnet einen Raum mit erhöhter Spannung, Widerständen und Reibungen – das wird unvermeidlich sein. Anders ist eine Neuordnung und Anpassung an die neuen Verhältnisse – die Europäisierung der Verhältnisse – nicht denkbar. Die Haltungen hierzu sind auf beiden Seiten der Oder asymmetrisch. Dem Drang nach Westen in Polen steht ein Abwarten und Abwehren in der deutschen Grenzregion gegenüber. Die erhöhte Spannung an der Oder kann beides bedeuten: Aktivierung oder Nervosität, Hektik oder Hysterie. Auf nach Europa oder Angst vor Europa. Es gibt Indizien für beides.

Die Bildung der Oder als Grenze und des Oderraums als europäischer Grenzregion ist nicht die Wiederherstellung von etwas Altem, sondern die Schaffung von etwas Neuem. Dazu gehört auch die Erzählung von einem wachsenden und immer wieder zerstörten Zusammenhang. Damit könnten wir Bezüge freilegen, die nach Krakau, Warschau, Stockholm, Prag, Wien und Berlin führen, und eine Zone, die ins Abseits geraten ist, im Kopf wenigstens reaktivieren und vorwegnehmen. Irgendwann wird dann auch die Wirklichkeit so weit sein. Vielleicht geht es rascher, als wir zu denken wagen.

KARL SCHLÖGEL