„Die Konservativen haben Angst“

Interview MARTINA WITTNEBEN und THILO KNOTT

taz: Herr Kardavani, die iranische Justiz macht Ihnen schwere Vorwürfe – „Propaganda gegen den Staat“, „Beleidigung des Islam“, „Herabsetzung der Islamischen Republik“. Was haben Sie Böses getan, als sie im vorigen Jahr an einer Konferenz der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin teilnahmen?

Kazem Kardavani: Gar nichts. Alle 17 Teilnehmer der Konferenz haben ohne Ausnahme nicht ein einziges Wort gesagt, das sie nicht auch vorher im Iran gesagt hätten. Wir haben uns im Iran sogar wesentlich weitgehender in der Öffentlichkeit geäußert.

Wie erklären Sie sich dann diese heftige Reaktion?

Die Konservativen haben nach den Parlamentswahlen im letzten Jahr an Einfluss verloren. Deshalb suchten sie einen Vorwand, um zuzuschlagen. Auf der Konferenz gab es Teilnehmer aus drei verschiedenen, im Iran politisch sehr aktiven Lagern. Es gab die fortschrittlichen religiösen Intellektuellen, die der reformistischen Regierung angehören, dann die fortschrittlichen religiösen Intellektuellen, die nicht an der Regierung beteiligt sind – und schließlich die säkularen Intellektuellen, zu denen ich mich selbst zähle. Die Tatsache, dass sich diese drei Strömungen zusammengesetzt haben, hat den Konservativen Angst gemacht.

Haben Sie Angst vor Verfolgung, vor dem iranischen Geheimdienst?

Für mich ist das keine Frage der Angst. Auch für die Dinge, die wir im Iran gemacht haben, wurden wir verfolgt. Wir sind Verfolgung also gewissermaßen gewohnt. Auch im Iran habe ich ohne Angst gesagt, was ich denke – obwohl ich wusste, dass ich überwacht wurde. Ich setze hier in Deutschland also nur fort, was ich im Iran auch getan habe.

Ihre Telefonnummer bekommt aber niemand ohne Ihre ausdrückliche Genehmigung?

Zugegeben. Aber als ich im Iran lebte, wäre es genauso einfach gewesen, mich mundtot zu machen. Damals bin ich nur knapp entkommen. Also sage ich mir, dass es besser ist, seiner Arbeit nachzugehen – statt dauernd daran zu denken, was einem passieren könnte.

Vor der Präsidentschaftswahl im Juni dieses Jahres nahmen die Repressalien durch die klerikalen Gegner zu: Zeitungen wurden geschlossen, Journalisten verhaftet, es gibt wieder Steinigungen. Haben Sie Hoffnung, dass die Repressalien nach dem klaren Sieg Chatamis abnehmen?

In den Reihen der iranischen Konservativen lassen sich zwei unterschiedliche Reaktionen auf den Wahlsieg Chatamis beobachten. Ein Teil begreift, dass man nicht mehr mit Repressionen und Gewalt regieren kann. Diese Gruppe wird versuchen, ihre eigenen Grundsätze in Frage zu stellen und zu erneuern. Der andere Teil der Konservativen wird die Repressionen fortsetzen oder noch verstärken. Es geht diesen Leuten nicht nur um Politik.

Um was dann?

Es bestehen große Verbindungen zwischen politischer und wirtschaftlicher Macht. Würden einige Leute ihren politischen Einfluss verlieren, hätten sie auch keine wirtschaftliche Macht mehr. Sie haben diese Position nicht in einer Gesellschaft der freien Konkurrenz erworben, sondern ihre politische Macht dazu benutzt, um wirtschaftlichen Einfluss zu bekommen. Es sind also Milliarden über Milliarden, die sich hinter diesem politischen Kampf verstecken. Eines der Charakteristika der gegenwärtigen iranischen Gesellschaft ist die Existenz mafiöser Verbindungen sowohl in der Wirtschaft als auch in der Politik.

Das Ergebnis der Präsidentschaftswahl ist eine klare Absage an die Machtfülle der Fundamentalisten. Wie weit ist der Iran von einer wirklichen Demokratisierung entfernt?

Wenn man im Iran auf friedlichem Wege etwas verändern will, muss man die Verfassung ändern. Das ist der einzige Weg. Wenn die islamischen Machthaber eine Demokratisierung des Iran nicht akzeptieren, zwingen sie die Menschen zu einer Revolte. Es ist das erste Mal in unserer Geschichte, dass wir die Chance zu wirklichen Reformen haben. Ich hoffe, dass uns die islamischen Machthaber diese Chance nicht nehmen werden.

Chatami spricht von einem „gerechten Gesellschaftsmodell im Zeichen von Islam und Demokratie“. Kann ein solches Nebeneinander funktionieren?

Chatami ist nicht der erste, der diese Frage stellt. Schon vor hundert Jahren gab es Bemühungen seitens der Islamisten, den Islam so zu interpretieren, dass er der Demokratie nicht widerspricht. Der Islam ist eine Ideologie – und als solche unterschiedlich interpretierbar. Es ist für uns sehr wichtig, dass Teile des Klerus der Überzeugung sind, dass der Islam demokratisch interpretierbar ist. Seine Meinung zählt bei dem Reformprozess in gewissen Kreisen viel mehr als die der Intellektuellen. Auch wenn ich glaube, dass die Trennung von Staat und Religion letztendlich die einzige Lösung sein wird.

Die fundamentalistischen Kräfte werden sicher nicht freiwillig ihre schier uneingeschränkte Macht abgeben?

Die Forderung nach Demokratie wird nicht mehr nur von den Intellektuellen gestellt. Es ist die Forderung eines ganzen Volkes. In den letzten vier Jahren hat sich in der Öffentlichkeit eine sehr engagierte Diskussion über die Möglichkeiten einer Demokratisierung der Gesellschaft entwickelt: In den Städten, auf dem Land, unter den einfachen Leuten der Straße, überall. In diesen Jahren hat sich der ganze Iran in eine Universität verwandelt. Eine Universität mit Kolloquien, Seminaren, die 24 Stunden am Tag in allen Häusern des Landes stattfinden. Es gibt also Anzeichen, die Anlass zur Hoffnung geben.

Chatami ist der Hoffnungsträger des Volkes. Dennoch wird sein Kurs kritisch beäugt, vor allem weil er sich nicht öffentlich gegen Verhaftung und Folter von politischen Gesinnungsgenossen ausspricht. Müsste Chatami nicht häufiger die Konfrontation mit den konservativen Kräften suchen – gerade, um die Geduld seiner Anhänger nicht überzustrapazieren?

Ich bin ein kritischer Unterstützer Chatamis. Aber es ist nicht Chatami, der den Veränderungswillen herbeigeführt hat. Vor allem hat sich die Gesellschaftsstruktur verändert. Zur Zeit der Revolution von 1979 hatte der Iran eine Bevölkerungszahl von 35 Millionen, jetzt liegt sie bei 64 Millionen. Zwei Drittel der Iraner sind jünger als 25 Jahre. Vor der Revolution gab es 175.000 Studenten, jetzt 1,5 Millionen. Wenn man diese Veränderungen sieht und betrachtet, wie sich die fundamentalistischen Machthaber während der letzten 20 Jahre verhalten haben, erklärt sich die Wahl Chatamis. Sie ist die Frucht dieses Veränderungsprozesses.

In welchem Punkt kritisieren Sie als „kritischer Unterstützer“ Chatami?

Man muss sich darüber im Klaren sein, dass Chatami daran interessiert ist, das System aufrechtzuerhalten. Er hat Angst, dass er die Kontrolle verliert, wenn er die Dinge zu weit vorantreibt. Man kann diese Sorge verstehen. Dennoch hätte er die Unterstützung, die er im Volk hat, besser nutzen können.

Wie zum Beispiel?

Als er das erste Mal gewählt wurde, wussten die Konservativen sechs Monate lang nicht, wie sie darauf reagieren sollten. Da hätte er bestimmte Anliegen durchsetzen könne. Nach einer Serie von politischen Morden hat Chatami das Ministerium für Staatssicherheit zwar gezwungen, seine Verantwortung für die Morde öffentlich zuzugeben. Aber er hat die Schuldigen nicht zur Verantwortung gezogen. Er hat also einerseits etwas ganz Außergewöhnliches gemacht, ist dann aber in dieser Logik nicht bis zum Ende gegangen.

Wie schwer wiegt, dass die iranische Gesellschaft gespalten ist: Hier die Jungen, die sich an MTV, Satellitenfernsehen und Internet orientieren – und dort die Alten, die dem Islam verpflichtet sind?

Die Gesellschaft ist gespalten, aber nicht nur zwischen Alt und Jung. Es gibt auch unter den Älteren viele Reformkräfte. Was die Jungen betrifft: Es ist nicht nur das Internet und das Satellitenfernsehen, was sie in die Opposition treibt. Es sind die alltäglichen Dinge: Wenn ein junger Mann bei 45 Grad ein Hemd mit kurzen Ärmeln trägt und ein Fundamentalist ihn auffordert, sich zu bedecken. Wenn ein Mädchen von 15 oder 16 Jahren verhaftet wird, weil ihm eine Haarsträhne aus dem Schleier hervorguckt. Um das unerträglich zu finden, müssen die jungen Leute nicht unbedingt den Vergleich zu einer anderen Realität vor sich sehen.

Sie werden ein Jahr in Weimar bleiben. Haben Sie die Hoffnung, danach in den Iran zurückkehren zu können?

Die Arbeit von Intellektuellen wie mir besteht darin, die Hoffnung zu bewahren.