Mitlesen und mitzählen für alle

Bravourstück der Leere: „Einstein on the Beach“ in der Staatsbank lädt zum Streunen und Regenerieren ein

Es lässt sich von diesem Stück eine Menge lernen. Es unterrichtet zum Beispiel, wie eine Musik von viereinhalb Stunden zu bewältigen ist. Ein langer Atem hilft. Und gutes Sitzfleisch. Der entschiedene Wille zur phlegmatischen Höhepunktlosigkeit, um sich ja nicht zu verausgaben. Besser man kuschelt sich bequem. Denn wenn man sich etwa als Saxofonist während des Spiels nicht an der Nase zu kratzen versteht, ist man verloren.

Auch der Dirigent bedarf einer außergewöhnlichen Konzentration. Er muss zählen. Zunächst bis acht, Dann: bis acht. Schließlich, 270 Minuten später, ein letztes Mal: bis acht. Die Sänger hingegen wahren ein rechtes Maß an Spannung. Sie schleudern Zahlen (tatsächlich: von eins bis acht) und Tonsilben (für die Laien unter uns: do, re, mi, fa, so, la und ti) in zungenbrecherischer Geschwindigkeit heraus. Man bangt. Droht eine Sehnenscheidenentzündung im Unterkiefer?

Am Ende, so viel vorweg, haben es alle schadlos überstanden. Lächelnd wurde applaudiert, lächelnd wurde das Geräusch aufeinander prallender Hände empfangen. Und alle hatten sich dieses Lächeln verdient. Man hatte kein geringeres Werk als „Einstein on the Beach“ durchgestanden, jenes Opus magnum eines gewissen Philipp Glass, das den Hausbackensten unter den Minimalisten 1976 über Nacht berühmt machte.

In der ersten vom ursprünglichen Regiekonzept Robert Wilsons abweichenden Inszenierung, die am Mittwoch in der Staatsbank Premiere hatte, hat man „Einstein on the Beach“ als ein offenes Kunstwerk verstehen wollen. Die Sänger weilen mit ihren Mikrofonen unter dem Publikum, die Teleprompter sind so platziert, dass alle gut mitlesen können. Die Musik wird von Lautsprecherprojektionen durchs gesamte Haus geplärrt, um die Hörer zum Spaziergang zu bewegen. Hier hat man das vom Staatsbank-Mief entlüftete Kellerverließ flauschig mit Gras und Luftmatratzen ausgelegt, dort bunte Videos installiert. Eine Lounge lädt zum regenerativen Boxenstopp ein. Aber das Geschehen konzentriert sich auf den Raum, in dem das fünfköpfige Ensemble und die vierzehn Sänger ihren Platz haben.

Die vorsichtige Aktualisierung des Werks wird von einer Videoprojektion ergänzt mit naturwissenschaftlichen Diagrammen und Livecam-ähnlichen Aufnahmen aus dem Privatleben der Sänger. Aber jede noch so bedeutungslastige Geste der Regie wird von der Musik geschluckt. „Einstein on the Beach“ ist ein Bravourstück der Leere: die auf bedingungslose Abstraktion zielende Werkidee ohne Handlung und echte Szenen überflutet jeden Versuch ihrer Konkretion.

Im gescheiterten Versuch einer konzeptuell-inhaltlichen Auslegung erfährt man „Einstein on the Beach“ als klassisches Meisterwerk, dessen Aura längst weit über seine musikgeschichtliche Verschlagwortung hinausreicht. Und trotzdem ist das Stück gealtert. Der psychoakustische Sog, in den man beim Hören dieser Musik noch in den Achtzigerjahren unweigerlich verfiel, bleibt aus. In der postminimalistischen Ära haben andere Musiken, hat insbesondere Techno hypnotische Effekte lange über die schwindelige Repetitivität eines Philipp Glass hinaus perfektioniert. Da trifft es sich, dass das Regieteam um Berthold Schneider das Stück selbst historisiert mit Einspielungen der Schallplatten-Fassung und mit kurzen Bildsequenzen, die den damals jungen Komponisten zeigen.

Am Ende gibt es an dieser Aufführung nur eines auszusetzen. Dadurch, dass die Inszenierung die niederschmetternde Werkdauer auflockert, dass man wiederholt zum Streunen angehalten wird und der Musik nicht ausgeliefert ist, bleibt eine entscheidende Hörerfahrung aus. Es wird unmöglich, sich als Hörer aufzugeben, seinen Körper preiszugeben und – das klingt jetzt a bissel pathetisch – ganz in der Musik aufzugehen. Man verlässt die Vorstellung folgerichtig nicht mit dem Gefühl der Läuterung, sondern hat bestenfalls den Eindruck, gut unterhalten worden zu sein. BJÖRN GOTTSTEIN

Heute und am 26., 29., 31.8., 19.30 Uhr, Staatsbank, Französische Str. 35, Mitte, Karten unter Tel. 20 64 88 00