: Blattgold und Bagger
Urbanes Leben ist nicht mehr zwingend ans Wohnen im dichten Häusermeer gebunden. Daher müssen Architekten und Planer neue Ziele für die Stadt als Lebensform definieren
Weniger kann nicht mehr sein. Jahrhunderte und Jahrzehnte nach Katastrophen wie Pest, Cholera und Krieg ist die Möglichkeit vergessen, dass Städte Einwohner verlieren können. Wachstum ist die Grundlage aller Planungen. Doch: Erneut schrumpfen viele Städte in Mitteleuropa. Es sind nicht mehr Flucht oder Tod, die uns die Städte verlassen lassen – sondern Arbeitslosigkeit oder Wohlstand.
Auflösungserscheinungen der Industriegesellschaft. Nicht mehr die Ballung von Bewohnern und Betriebsstätten ist notwendig. Stattdessen zieht der eine dem Job hinterher, der andere vor die Stadt. Weltweite Kommunikation ist heute überall, Medien versorgen flächendeckend jeden jederzeit. Alles, wofür die Stadt einst stand, ist so sehr Allgemeingut, dass städtische Qualitäten wie Kommunikation, Dichte, Anonymität und Liberalität nicht mehr zwingend an städtische Wohn- und Arbeitsformen gebunden sind. Macht sich die Stadt als das wichtigste Erfolgsmodell der Zivilisation selbst überflüssig?
Auf jeden Fall fehlt es an neuen Ideen für die Lebensform Stadt. Wenn ein urbanes Lebensgefühl im Informations- und Kommunikationszeitalter nicht mehr zwingend an urbanes Wohnen im dichten Häusermeer gebunden ist, werden Architektur und Städtebau neue Ziele formulieren müssen. Wie wollen wir wohnen, wie können wir arbeiten? Noch überwiegt das von der Bauwirtschaft angeführte Klagen über das Wegbrechen angestammter Märkte. Das Zwischenhoch der Neunzigerjahre verleitete zu scheinbarer Sicherheit. Baufirmen und Planungsbüros wähnten sich in sicheren Wachstumsmärkten, obwohl sie meist Subventionsempfänger waren.
Was kurze Zeit gut ging, musste letztlich scheitern. Länder und Kommunen gaben in den Zeiten des Förderbooms das Heft des Handelns aus der Hand. Statt angemessener Planungen auf der Grundlage der Potenziale vor Ort überwog der Glaube an Versprechungen einer Rettung von außen. Inzwischen ist die Zwangslage so groß, dass allein eine Ankündigung einer möglichen Standortansiedlung durch einen Autohersteller mehrere hundert Städte dazu verleitete, nicht nur komplette Standortanalysen vorzulegen, sondern prophylaktisch auch schon mal jeweils über 200 Hektar Gewerbefläche zu erwerben und zu entwickeln. Brachen von morgen. In der Konkurrenz um die Ansiedlung weniger Großinvestoren gehen die Städte oft fahrlässige Wege.
Demnächst werden die Bürgermeister um Rückbau- und Abrissquoten konkurrieren. Sobald alle Förderbedingungen umgestellt sind, beginnt der Wettlauf, der bisher noch abgelehnt wird. Politische Initiativen zur Sicherung der Stadtentwicklung sind in dieser Situation wirkungslos.
Für viele Städte in Ostdeutschland ist das Ende des Stadtwachstums ein konkretes Problem. Auf Abwanderung folgt Leerstand, auf Leerstand folgt Abriss. Die Entwicklung dieser Städte verläuft rückwärts. Übrig bleiben die sanierten Stadtzentren in den Grenzen des 19. Jahrhunderts. Dass diese schöne Bilder abgeben, aber keine Wachstumskerne mehr sind, macht den Anachronismus aus. Denn nicht Städte, sondern Einkaufscenter versorgen in den schrumpfenden Regionen die Bevölkerung. So manches restaurierte Altstadtcafé hat weder Alltags- noch Sonntagsbesucher. Und steht dann selbst bald leer.
Die Folgen notwendiger Konsolidierung werden im Raum sichtbar. Locker bebaute Vororte wachsen ebenso wie Brachen, wo sich bisher noch Wohnungen auftürmten. Auch wenn sich der Leerstand nicht auf die Neubauquartiere der letzten Jahrzehnte beschränkt, setzt die „Marktbereinigung“ eben dort an. Rückbau, die schrumpfende Stadt, wirkt sich auf die Sozialstrukturen und vor allem auf die Stimmung einer Stadt ungleich drastischer aus als eine finanzielle Marktbereinigung. Wenn eine Immobiliengesellschaft an die Wand fährt, fallen bald auch die realen Wände ihrer Objekte.
Sieht man sich das Weichbild der Region Leipzig an, fallen jedoch nicht nur die Leerstandsraten in Altbau- wie in Plattenbauquartieren auf, sondern auch die Zuzüge in die Vorstädte und Dörfer des Umlandes. Der Wandel der Besitzstrukturen von der Mietwohnung ins Eigenheim ist meist auch ein Wandel der Wohnform von der mehrgeschossigen Mietskaserne zum Einfamilien- oder Reihenhaus. „Gerade die gesellschaftlich Aktiveren und die jüngeren Mitbürger verlassen die Stadt, es entsteht ein Alterspyramide, die diesen Namen gar nicht mehr verdient hat“, analysiert Pfarrer Hans-Peter Gensichen aus Wolfen. Wird eine solche Stadt der Übriggebliebenen noch für Freiheit und Vielfalt stehen? Oder: Steht die Stadt, nicht nur die ostdeutsche Stadt, „auf der Kippe“?
Zu erwarten ist, dass pseudoindividuelle Wohnformen von der Stange weiter wachsende Akzeptanz finden. Die Stadtentwicklung der Zukunft ist – mit Ausnahme der großen Metropolen – zumindest in Europa eine Rückentwicklung. Auch die Urbanität beschwörende Investorenbewegung des „New Urbanism“ gleicht eher der Umwandlung der Städte in überschaubare Wohnsiedlungen als einem Plädoyer für die Verstädterung. Selbst wenn in den USA als Mutterland des New Urbanism mit großer Neugierde auf die europäische Stadt geschaut wird, ist doch vor allem deren Abziehbild als Wohnsiedlung mit Stil, nicht die brodelnde Stadt, als Vorbild gemeint.
Nun ist die Verstädterung ein im globalen Maßstab ungebrochener Trend, der aufgrund der Konzentration von Armut oftmals besonders skeptisch beobachtet wird. Die Zukunft der europäischen Städte unter den Bedingungen des Schrumpfens muss also, wenn die europäische Stadt zum Leitbild taugen soll, Qualitäten statt Quantitäten bieten. Wer bisher als Stadt nicht die Alt- oder Neubauten zum Image aufgebaut hat, stirbt heute still. Und selbst wenn eine Stadt – wie Leipzig – ihre Bausubstanz zum Image erkor, ging das Kalkül nicht auf. Leerstand im Stillstand führt zur „perforierten Stadt“, wie der Leipziger Planungschef Engelbert Lütke-Daldrup seine Stadt inzwischen nennt.
Auch Wolfen-Nord in Sachsen-Anhalt wurde immer leerer und schöner. Kulturelle Aufwertung durch Wohnumfeldverbesserung schien kurze Zeit ein Rezept gegen den Verlust an Stadtsubstanz. Doch inzwischen setzt die Immobilienwirtschaft vielerorts auf Bagger statt auf Blattgold.
Doch mit jeder abgebrochenen Initiative werden die Städte und ihre Bewohner mutloser. Bei ihnen „staut sich etwas auf“, wie der Hallenser Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz meint. Ja, es werden Vergleiche gezogen zur Situation 1989. Abwanderung der Bürger und Lethargie der Regierenden.
Es muss nun darauf ankommen, reale Perspektiven jenseits des Leitbildes des quantitativen Wachstums zu formulieren. Erst dann kann wieder Mut zur Entwicklung der Wohn- und Lebensformen geschöpft werden. „Kleiner“ oder „größer“ wird für diese Visionen kein relevanter Maßstab mehr sein. Nur so entstehen Vorbilder für die Siedlungen der Zukunft in Europa.
THIES SCHRÖDER
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