Die Verfügbarmachung der Urform

Industriefilme über die Produktion von Käse oder Kork: Das Museum Europäischer Kulturen zeigt in „Exotisches Europa: Reisen ins frühe Kino“ Einblicke in die frühen Jahre des nichtfiktionalen Films und Probleme seiner Erhaltung und Restaurierung

von ANDREAS BUSCHE

Kaiser Wilhelm II. war der erste deutsche Filmstar. 1896, ein Jahr nach der offiziellen Geburtsstunde des Kinos, tauchte er erstmals in kurzen, reportageähnlichen Abfilmungen von Staatsempfängen und öffentlichen Feierlichkeiten auf. Aber nicht jedes Staatsoberhaupt konnte sich anfangs von den Möglichkeiten der neuen Technik so überzeugen lassen wie der deutsche Regent. Noch 1902 untersagte Edward VII. Georges Méliès die Drehgenehmigung für die Krönungsfeierlichkeit, sodass Méliès schließlich gezwungen war, seine Dokumentation vor gemalter Kulisse mit einem Wäscherei-Angestellten nachzustellen.

Die Abneigung war bis zu einem gewissen Grad sogar verständlich. Die ersten Filme – Projektoren waren simple Lichtkästen wie Edisons Kinetoscope oder lärmende Apparaturen mit holprigem Bildlauf wie der Cinématographe der Gebrüder Lumière, die in den frühen Jahren vor allem im Programm von Varieté-Shows zur Belustigung des Publikums zum Einsatz kamen. Der Filmpionier Louis Lumière zeigte sich schon Anfang des neuen Jahrhunderts enttäuscht vom Innovationspotenzial der Erfindung, die er maßgeblich mitgeprägt hatte. Und Étienne-Jules Marey, der Vater der Serien- und Chronophotographie, hatte die mechanischen Projektionsmaschinen früh als Kinderspielzeug abgetan. So wurde das Kino von seinen Erfindern für tot erklärt, bevor sein Zeitalter überhaupt richtig begonnen hatte.

Die Fixierung auf das Spektakel der Bilder an sich war in den Anfangsjahren des Kinos aber nur natürlich. Hatten die Laterna Magica oder das Kaiserpanorama August Fuhrmanns beim Zuschauer nur eine stereoskope Illusion bewegter Bilder erzeugen können, war der Cinématographe erstmals in der Lage gewesen, realistische Bewegungsabläufe abzubilden. Die Bevölkerung strömte in den 10er-Jahren vor allem aus Neugier an der neuen Technik in die Vorstellungen, weswegen Filmhistoriker die Filme dieser Zeit immer etwas stiefmütterlich behandelten. Denn was in den Varieté-Programmen aufgeführt wurde, waren reine Effektfilme. Sie hießen damals noch „vues“, auf deutsch etwa „Ansichten“, weil sie kein narratives Element boten, sondern vielmehr authentische oder spektakuläre Eindrücke vermittelten. Es waren Action-, Aktualitäten- und Reisefilme, Tier- und Landschaftsaufnahmen (sehr beliebt!) und später auch Szenen vom Leben der einfachen Menschen, ein Sujet, das schließlich auch in die Tradition des sozial- und neorealistischen Kinos (von Viscontis „Die Erde bebt“ bis Bibermans „Das Salz dieser Erde“) einfloss.

Erst 1925 prägte der amerikanische Filmhistoriker John Grierson den Begriff „dokumentarischer Film“. Betrachtet man die Filmgeschichte von der heutigen Warte aus, scheint sich jedoch ein Loch aufzutun zwischen den ersten Filmen mit Dokumentarcharakter der Gebrüder Lumière von 1895 und dem ersten langen Dokumentarfilm „Nanook of the North“ von Robert J. Flaherty aus dem Jahr 1922. Dass dem tatsächlich nicht so ist, beweist ein kurzer Blick in die Bestände europäischer Filmarchive. Nur konzentrierte sich das Interesse von Filmhistorikern lange Zeit ausschließlich auf fiktionale Filme zwischen 1902 und 1929, dem Jahr, in dem der Lichttonfilm seinen Durchbruch erlangte. Eine Neubewertung des frühen Dokumentarfilms fand erst in den letzten Jahren statt.

Die Ausstellung „Exotisches Europa“ im Museum Europäischer Kulturen liefert nun einen kleinen, leider auch etwas oberflächlichen Einblick in die frühen Jahre des nichtfiktionalen Films, versucht gleichzeitig aber die Bedeutung der Historizität der Dokumente zu vermitteln. Das Problem der Erhaltung und Restaurierung des empfindlichen Filmmaterials und der langsam zerfallenden Filmtechnik steht bei „Exotisches Europa“ im Mittelpunkt; die Zusammenhänge, aus denen heraus der Film entstand bzw. die dessen weitere Entwicklung prägen sollten – Fotografie, Malerei, Kolonialpolitik, Krieg etc. – kommen dabei jedoch etwas zu kurz. Zu sehen ist u. a. eine Auswahl der 100 Filme (zwischen 1 und 8 Minuten), die im Zuge des Projekts „Exotisches Europa“ restauriert und der Öffentlichkeit erstmals wieder zugänglich gemacht wurden. Dazu gehören historische Filme über Venedig und Santa Lucia, Industriefilme über die Produktion von Käse in Holland oder Kork in Frankreich sowie Propagandamaterial über Frauenarbeit im Krieg.

Die Verfügbarmachung dieser Urform des Unterhaltungsfilms, die in Kinos meist im Vorprogramm lief, ist das primäre Anliegen des ambitionierten Projekts. Gleichzeitig machten die Restaurateure aber auch einige bemerkenswerte Entdeckungen. Viele der alten vues waren bereits durch Applikation von Anilinfarbstoffen kunstvoll eingefärbt: entweder monochrom durch ein Tonerbad oder quasi-naturalistisch durch Schablonenkolorierung. Diese Farbgebung stellt auch das größte Problem bei der Restaurierung des Materials dar. Bis 1951 wurde in der Filmproduktion ausschließlich mit dem hochempfindlichen und leicht entflammbaren Nitrofilm gearbeitet, ein Material von geringer Haltbarkeit. Heute weisen die in den Archiven gelagerten vues bedenkliche Auflösungserscheinungen auf, zudem ist kaum noch intakte Technik zur öffentlichen Aufführung vorhanden.

„Exotisches Europa“ fragt nach dem kulturhistorischen Wert der audiovisuellen Medien und feinmechanischen Geräte. Viele Filmarchive begnügen sich mit der Sicherung der historischen Kopien auf Originalmaterial lediglich durch Umspielen auf neuere Formate (in den meisten Fällen DVD); das Original wird anschließend vernichtet. Nitrofilm hat jedoch einige materielle Charaktereigenschaften (z.B. in Bezug auf Farbintensität und Kontrastierung), die auf heutigem Filmmaterial schlichtweg verloren gehen. Die Ausstellung demonstriert die optischen Unterschiede zwischen Original und Reproduktion, um zu dem Schluss zu kommen, dass selbst die digitalen Medien mit ihren scheinbar unendlichen Möglichkeiten einen kulturellen Verlust nicht verhindern können. Warum also wird der Wert eines echten Van Goghs und eines echten Lumières immer noch an zweierlei Maß gemessen? Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit hat die Frage nach dem Erhalt eines so spezifischen Kulturerbes wie dem (Nitro-)Film eine neue Wichtigkeit erhalten.

Bis 28.10., Di–Fr 10–18 Uhr, Sa u. So 11–18 Uhr, Museen Dahlem – Museum Europäischer Kulturen, Im Winkel 6/8