Handgemenge mit Gespenst

Joschka Fischer irrt: Die Kritiker von Genua agieren nicht gegen die EU. Sie wollen nur zu Recht wissen, ob Europa künftig Besitzstände wahren oder die Armut bekämpfen wird

Fischer fixiert sich in der Europapolitik auf die institutionell-politische Ebene, letztlich auf Verfassungsfragen

Worüber reden wir eigentlich, wenn wir uns mit der Kontroverse um Joschka Fischers Haltung zu den Demonstranten von Genua beschäftigen? Über einen Generationenzusammenhang, über politische Begriffe, über die „Wahl der Waffen“.

In seinem jüngsten Interview, das auf die Kritik Dany Cohn-Bendits (taz v. 15. 8. 01) antwortet, entwickelt Fischer zwei Argumentationslinien. Als gebranntes Kind want er vor Linksradikalismus und Gewalt. Sie bildeten einen Irrweg, in den sich soziale Bewegungen schon mehrfach verlaufen hätten. Und als Regierungsmitglied will er darauf aufmerksam machen, dass die wichtigsten Elemente der Globalisierungskritik zum rot-grünen Regierungsprogramm gehören. Daher seine klare Schlussfolgerung: Eine Politik, die den Interessen und Bedürfnissen der „Dritten Welt“ entgegenkommt, setzt ein starkes Europa voraus. Und somit die Notwendigkeit, „die politische Integration Europas zu vollenden“.

Klingt plausibel. Fischer entwickelt ein Rollenspiel. Hier die neue, nachdrängende Generation mit ihrem moralisch-universalistischen Anspruch, dort die Kärrner der Realpolitik, die vollbringen, was gegenwärtig machbar ist. Hier der Absolutheitsanspruch, der stets von der Versuchung bedroht ist, auch zu verderblichen, gewaltsamen Mitteln zu greifen; dort der Träger einer mühevoll erlernten politischen Kultur, der sich verpflichtet fühlt, die Jungen – bei aller Anerkennung ihres Rechts auf Neuanfang – vor der Wiederholung der immer gleichen Fehler zu warnen. Dass die Jungen die Alten angreifen ist zwar unfair, aber unvermeidlich. Fischer aber bleibt objektiv. Schließlich liefert er einen sachlichen Interpretationsrahmen.

Stimmt seine Interpretation?

Sie stimmt weder hinsichtlich der Kampfformen der Globalisierungskritiker noch hinsichtlich des Verhältnisses von Zielsetzungen und Realpolitik. Was die Kampfformen anbelangt, so haben viele der in Genua malträtierten und inhaftierten Aktivisten den zivilen Ungehorsam gewählt, selbst eine so wohlgesittete Gruppe wie Attac, die den G-8-Mächten das Recht auf eine „rote Zone“ bestritt. Natürlich hat jede Taktik kalkulierter Gesetzesverletzungen ihre moralischen Untiefen, aber die gilt es gerade herauszuarbeiten. „Friedliche Demonstranten“ zu preisen, wie Fischer es tut, ohne zu erwägen, dass Nötigung und Sachbeschädigung vielleicht legitime Mittel des zivilen Ungehorsams sein könnten, ist nichts als konservativer O-Ton.

Aber Fischer hat auch Unrecht, wenn er sich selbst als Realpolitiker des guten Ziels, als Verantwortungsethiker, die Globalisierungskritiker hingegen als radikale Unbedingte, als Gesinnungsethiker, hinstellt. Viel von dem, was in Genua gefordert wurde, gehört in den Zeithorizont kurzer oder mittlerer Reichweite. Und einiges, was Fischer als realpolitische Zielsetzung proklamiert, ist so wirklichkeitsnah wieder auch nicht. Zum Beispiel seine Gedanken zu Europa.

Wieso gilt eigentlich als ausgemacht, dass der institutionelle Ausbau der Europäischen Union die Voraussetzung für eine positive globale Entwicklungspolitik ist? Wie verhält sich das politische Projekt „Erweiterung und Vertiefung der EU“ zu den Wünschen und Interessen der europäischen Eingeborenen? Gibt es nur eine Addition von Interessen oder ein gemeinsames europäisches Interesse? Was heißt das überhaupt, Interesse?

Mit dem Interessenbegriff hat Fischer seine Schwierigkeiten. Er scheut vor dem Begriff des „nationalen Interesses“ zurück. Das ist verständlich. Dem Begriff haftet seine Herkunft aus der Rüstkammer imperialer Geopolitik an. Aber auch wenn man ihn strikt auf das je nationale Gemeinwohl bezieht, also den – auch materiellen – Interessen der großen Mehrheit zuordnet, bleibt doch die Frage, welches nationale Interesse die Deutschen in ihrer Eigenschaft als Deutsche wahrnehmen sollen. Am ehesten wäre das noch die deutsche Vereinigung in möglichst humaner und zivilisierter Form. Um die Schwierigkeiten mit dem Begriff der Nation zu umschiffen, sagt nun Fischer, das „nationale Interesse“ sei wesentlich auf Europa gerichtet, sei mit dem „europäischen Interesse“ identisch. Anders als im Fall des Bundeskanzlers kann man Fischer ruhig abnehmen, dass er „Europa“ nicht nur als Kürzel für einen gesicherten Absatzmarkt deutscher Automarken begreift. Er denkt und fühlt als Europäer, er glaubt im Sinn einer Art überstaatlicher europäischer Staatsräson zu handeln. Aber nochmals: Was kann das heißen?

Nötigung und Sachbeschädigung können auch legitime Mittel des zivilen Ungehorsams sein

Jürgen Habermas hat diese Frage in verkleideter Form, nämlich als Problem einer möglichen/unmöglichen Identität abgehandelt. Europäische Identität, so legte er dar, lässt sich nur im Vorgriff bilden, innerhalb gesellschaftlicher Netze, die bewusstseinsbildend wirken. Auf diesem Wege könne zum Beispiel eine europäische Sozialpolitik konsensfähig werden, obwohl der nationale Sozialstaat bislang den einzig wirksamen Schutzschild für die Schwachen darstellt. Habermas kommt es nicht darauf an, auf der europäischen Ebene gesellschaftliche Initiativen gegen Institutionen auszuspielen, er will vielmehr die Umrisse einer Dialektik skizzieren, die von der nationalen über die europäische zu einer universellen Identität führt.

Fischer hingegen fixiert sich in der Europapolitik auf die institutionell-politische Ebene, letztlich auf Verfassungsfragen. Aber ohne Ansätze eines gemeinsamen europäischen Bewusstseins bleibt die Verfassung leblos. Und dieses Bewusstsein kann sich nur auf der Basis gemeinsam formulierter Interessen bilden. Dies ist genau der Punkt, an dem Genua ins Spiel kommt. Offensichtlich bestand die große Mehrheit der dort versammelten Globalisierungskritiker nicht aus Feinden der europäischen Integration. Die Demonstranten waren vielmehr der Auffassung, dass über Europa zu reden nur sinnvoll sei, wenn von vornherein ein universalistischer Bezug im Mittelpunkt steht. Und dies nicht nur aus moralischen Gründen. Denn ein sehr greifbares, materielles Interesse sagte den in Genua Versammelten, dass sich ein angenehmes Leben auf dem Alten Kontinent nicht mit dem Elend ganzer Erdteile vereinbaren lässt.

Deshalb steht Genua nicht für eine Rebellion gegen die Europäische Union, sondern von Genua aus entwickelt sich die Frage, für wen und was die EU eigentlich gut sein soll. Diese Auseinandersetzung liegt vor uns. In ihr wird darum gestritten werden, ob es hauptsächlich um europäische Besitzstandswahrung und Sicherung geht, flankiert von taktischen Beruhigungsmaßnahmen gegenüber der armen Welt; oder ob von der EU eine Politik ausgeht, die den gegenwärtigen globalen Entwicklungstrend zu mehr Armut, Unterentwicklung und Friedlosigkeit umkehrt. Dazu bedarf es, so weit hat Fischer Recht, in der EU effektiver politischer Institutionen. Aber sie laufen leer, wenn der Kurs nicht festliegt. Genua hat hier ein Wegzeichen gesetzt. Dieses Wegzeichen hat Fischer im Handgemenge mit dem Gespenst des „Linksradikalismus“ übersehen. CHRISTIAN SEMLER