DER ELEKTRONISCHE ARZNEIMITTELPASS ALLEIN REICHT NICHT
: Vorbeugen ist besser als überwachen

Nebenwirkungen hin, tödliche Versäumnisse um Lipobay her – Medikamente boomen. Die wachsende Zahl älterer Menschen vergrößert die Nachfrage, da mit zunehmendem Alter der Arzneimittelverbrauch drastisch ansteigt. Schon heute beanspruchen die über Sechzigjährigen gut die Hälfte der Kassenausgaben für Arzneimittel, obwohl sie nur 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Zugleich nehmen immer mehr Menschen vorbeugend Medikamente. Und schließlich steigt die Nachfrage nach Lifestyle-Pillen wie Viagra.

Die über 120.000 niedergelassenen Ärzte verlieren da leicht den Überblick, zumal sie von rund 15.000 Beratern der Pharmaindustrie bearbeitet und beliefert werden. In der Regel weiß der eine Arzt nicht, was der andere verordnet hat. Wie soll er so über die Risiken und Nebenwirkungen informieren? Mit einem elektronischen Arzneimittelpass? Der verspricht immerhin mehr Sicherheit für die Patienten – trotz plausibler Einwände von Datenschützern: Elektronisch gespeicherte Daten lassen sich nun mal nicht vor dem Zugriff Dritter schützen. Deshalb hatte man bei der Krankenkassen-Chipkarte bewusst auf alle Informationen über Diagnosen, Behandlungen und Medikamente verzichtet. Gerade die jüngsten Erfahrungen und der Medikamentenboom sprechen jedoch für den elektronischen Arzneimittelpass.

Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt will auch mehr „Patientensicherheit“ – und damit Geld sparen. Denn: Angeblich hat die informationsarme Chipkarte zahlreiche Patienten zum „Arzthopping“ und „Leistungsshopping“ bei verschiedenen Ärzten bewegt. Diesen Missbrauch will Schmidt beseitigen, um die Kassenausgaben für Arzneimittel zu begrenzen. Die sind allein im letzten Jahr um bundesweit 4,9 Prozent gestiegen. Was also tun? Jede Einschränkung der ärztlichen Verordnungsfreiheit ist beim Wahlvolk äußerst unbeliebt. Mit der – diskussionswürdigen – Stärkung des Hausarztes, der als Pilot im Facharztdschungel den Überblick auch über die Arzneimittel behalten könnte, scheiterte Rot-Grün. Ebenso mit der Ausgabenbegrenzung für Ärzte. Deshalb setzt man jetzt auf die Disziplinierung des Patienten durch Transparenz. Schließlich lässt sich so die erhoffte Einsparung mit dem Patientenwohl begründen.

Wer aber wirklich mehr Arzneimittelsicherheit will, müsste sich auch um Verbesserungen im Zulassungsverfahren bemühen: Weil die Pharmaindustrie neue Produkte rasch und aggressiv auf einem umkämpften Markt etablieren will, bleiben bei der Zulassung die langfristigen Folgen und Kosten-Nutzen-Abwägungen leicht auf der Strecke. Dieses grundlegende Problem kann auch kein Arzneimittelpass beheben. HARRY KUNZ