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: Wandernde Enthusiasten (7): Beim Hippopotamus

Schwebende Ästheten

Es ist ein Moment von ungeheurer Grazie. Eine Epiphanie, das Aufscheinen einer selbstvergessenen Schönheit, mit dem ich niemals gerechnet hätte und schon gar nicht an diesem Ort. Es beginnt als kaum wahrnehmbarer Schemen, als leichte Verdichtung im türkis-grünen Raum. Aus der algengesättigten Tiefe, getrübt von Millionen winziger Schilf- und Schlammpartikeln steigt eine Silhouette auf – und mit ihr die Ahnung einer Bewegung.

Plötzlich geht alles ganz schnell. Ein riesiger Kopf mit winzigen Augen nähert sich der Glasscheibe und biegt im letzten Moment zur Seite. Die eleganteste aller vorstellbaren Bewegungen dauert kaum eine Sekunde.

Zwischen zwei Wimpernschlägen schwebt der tonnenförmige dunkle Körper mit vier dicken, faltigen Beinen unendlich schwerelos vorbei: Ein Alien aus dem grünen All, majestätischer Raumgleiter mit winzigen Ohren, Gott auf Inspektionsfahrt. So sehr man sich auch wünscht, das leichte, beiläufige Rudern der grauen Beinstummel festzuhalten, die wie auf Wolken zu laufen scheinen – selbst hundert Muybridge-Fotogramme würden am Wesen dieser Erscheinung vorbeizielen, deren Geheimnis erst durch den unsichtbaren Wasserwiderstand entsteht: Ein Flusspferd ist vorbeigeschwommen.

Man muss ein wenig Geduld haben, um in der verglasten Wasserlandschaft des Berliner Zoos, einer Konglomeration von drängelnden Eltern, in Position geschobenen Kinderwagen, Schwimmbadatmosphäre und aufgeregten Kinderstimmchen den Augenblick zu erwischen.

Hippopotamus amphibius Linnaeus, 1758 am unteren Ende des Nils entdeckt, Schulterhöhe von 150 bis 165 Zentimetern, Gewicht zwischen einer und viereinhalb Tonnen, maximales Alter bis zu 50 Jahren. Die gesamte Berliner Zucht soll auf den legendären Bullen „Knautschke“ zurückgehen, der 1943 geboren wurde. Als eines von 91 Tieren überlebte er den Zweiten Weltkrieg, wurde über ein halbes Jahrhundert alt und thront jetzt als Bronzestatue vor dem Tierpark-Eingang. Obwohl die Fältchen, Hauer und Ohren noch immer sehr lebensecht wirken, ist in der Metallskulptur nicht einmal die Ahnung der Eleganz zu spüren, die seine Enkel und Urenkel im Wasser entwickeln können.

Ohnehin scheint ein schwimmendes Flusspferd an die Grenzen der mimetischen Abbildbarkeit zu stoßen. In den Tempelmalereien im Tal der Könige bei Luxor gibt es einen der wenigen kunstgeschichtlichen Versuche, die dicken, schweren Tiere zum Schweben zu bringen – als eher rührende Piktogramme mit Wellengekräusel.

Denn die ikonographische Unerschlossenheit hat ihren Grund: Das Flußpferd ist so etwas wie die Heisenberg’sche Unschärfenrelation der Ästhetik. In der Versöhnung von absoluter Schwere und ätherischer Leichtigkeit (die es so auch nicht bei Elefanten, Nashörnern, Walen, Seelöwen oder anderen gewichtigen Schwimmern gibt), entspricht seine Erscheinung der klassischen Definition der Schönheit als undeutliche Vorstellung einer Vollkommenheit. Im schwimmenden Flusspferd verbinden sich Schön-sein und Schön-seiendes. An seiner aus dem trüben Nichts hervorschwebenden Gestalt wird sogar Platons Idee des Schönen für einen Augenblick sichtbar: als vollkommene Bewegung, aus der ein zeitlos vollendetes Schönes aufstrahlt, das uns mit dem Immerseienden vereint.

Gott ist das Flusspferd im Flusspferd. Womit auch eine unangenehme Anthropozentrik ins Wanken gerät, die in Frage zu stellen in letzter Zeit ja ziemlich aus der Mode gekommen ist. Zuletzt war es wohl Michel Foucault, der den Menschen noch mit einiger Konsequenz als eine Erscheinung aus den jüngeren Schichten der Archäologie des Denkens beschrieben hat. Seinem großartigen Bild, das am Schluss von „Die Ordnung der Dinge“ eine Philosophie skizziert, die mit dem Verschwinden unserer Art rechnen sollte, können wir ein anderes, tröstliches Bild zur Seite stellen. Wenn sich der Mensch auflöst wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand, wird an seiner Stelle ein Flusspferd erscheinen, gemächlich in die metaphysische Schwerelosigkeit aufsteigen und für immer durch die zeitlosen Weiten des Raumes schweben.KATJA NICODEMUS