bernhard pötter über Kinder
: Im Zeitalter des aufgeklärten Patriarchen

Demokratie in der Familie ist schön. Noch schöner ist es, wenn die Eltern das Sagen haben

(Internes Protokoll der Sitzung des Familienrats vom 10. 8. 2001, letzte Sitzung vor der Sommerpause. Tagesordnungspunkt: Abstimmung der Anträge.)

Antrag der Regierungsfraktion: Dieses Jahr Urlaub am Meer.

Opposition: „Ich will auf den Bauernhof in den Bergen Kälbchen streicheln.“

Ich bitte um das Handzeichen: Zwei Stimmen für das Meer, eine für die Berge. Also Urlaub in den Bergen.

Wir kommen zum Antrag der Opposition: Anschaffung eines Streichelponys. Begründung: „Streichelponys sind sooo süß!“

Regierungslager: Zu teuer, wo soll das denn stehen, und es macht nur Ärger und Dreck.

Abstimmung: Für den Antrag eine Stimme, dagegen zwei. Ein Pony wird es nicht geben.

(Protokoll Ende)

Mit dieser Art der innerfamiliären Demokratie ist es bei uns bald vorbei. Noch gilt der alte Grundsatz: One man, one vote. Aber sobald das zweite Kind da ist, blockieren sich Regierung und Opposition durch ein numerisches Patt. Doch Stillstand und Reformstau kann sich unsere kleine Familie nicht leisten. Also werden Anna und ich gezwungen sein, die Maske der demokratischen Kleinfamilie fallen zu lassen und mit anderen Machtmitteln zu arbeiten: Stimmenkauf, Erpressung oder direkte Repression. Jonas übt schon mal die Worte „Minderheitenschutz“ und „Untersuchungsausschuss“. Soll er doch.

Schuld daran ist natürlich die Politik. Nicht nur die Mama-bleibt-zu-Hause-dann-fehlen-keine-Kindergärten-und-Papa-rackert-sich-tot-Familienfetischisten von der CDU. Nein, auch die SPD entdeckt nun die Familie als „Keimzelle des Staates“. Bessere Familienpolitik mit mehr Geld, Teilzeit, Kindergärten und mehr Rücksicht auf Familien beim Städtebau und in der Bildungs- und Umweltpolitik – alles sehr schön. Aber was heißt denn „Keimzelle des Staates“? Soll es im Staat so zugehen wie in der Familie oder in der Familie so wie im Staat? Und was davon wäre schlimmer?

Die Familie als kleinste Einheit des Staates, das klingt gruselig. Nach Antreten und Fahnengruß, nach Vorschriften und Regeln, die Kinder angeblich fordern – nur nicht dann, wenn man gerade auf einer lebenswichtigen Bestimmung wie „Kleine Geschwister ertränkt man nicht in der Badewanne“ besteht. Aber auch die Idee, aus einer Keimzelle, in der ein Teil des späteren Lebewesens schon angelegt ist, den Staat mit seinen Regeln und Institutionen zu entwickeln, erinnert mehr an Dr. Frankenstein als an Jean-Jacques Rousseau.

„So ein Quark“, meint Anna, als ich ihr von dem SPD-Slogan erzähle. „Familie ist man doch, weil man sich liebt“, sagt die Mutter meiner Kinder. „Und im Staat lebt man, damit man sich nicht die Köpfe einschlägt“, ergänzt die studierte Historikerin.

Stimmt, denke ich. Früher brauchte man Kinder für die Altersvorsorge, heute ist man besser versorgt, wenn man keine Kinder durchfüttern muss. Da zucke ich zusammen: „Eine Familie hat deshalb keinen Zweck mehr“, sagte meine Frau (und ich sehe uns eine halbe Sekunde vor dem Scheidungsrichter), „aber Familie hat sehr wohl einen Sinn.“ (Uff, das war knapp.) Der Staat dagegen habe schon einen Zweck: Nämlich Millionen und Milliarden von Menschen einigermaßen das Leben zu ermöglichen. Einen wirklichen Sinn gebe es aber für die Nationalstaaten nicht.

Jonas und ich sind beeindruckt von so viel staatsfräulischem Tiefgang an unserem Küchentisch. „Vielleicht meint die SPD ja nur, dass man in der Familie fürs Leben lernt“, wende ich ein. „Schließlich besteht Erziehung genau wie Politik aus einer Mischung aus Zuwendung und Zuwendungen, aus Liebe, Einschüchterung und Bestechung.“

Da war sie wieder, die Fratze des Paternalismus, der manchmal auch in Gestalt des Maternalismus daherkommt. Solcherart vordemokratisches Denken wird gleich am nächsten Morgen von unserem Sohn abgestraft. Zum Frühstück soll es Honigpops geben, dieses Zeug, das von den Zahnärzten zwecks Umsatzsteigerung empfohlen wird, „und sonst nix!“ Meine Überzeugungsversuche, es erst mal mit gesundem Müsli und Obst zu versuchen, enden in wildem Wutgeheul.

Da gebe ich nach und hole die Zuckerbomben aus dem Schrank. Vor dem Zorn des Volkes muss auch der aufgeklärte Absolutismus dann und wann zurückweichen.

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