Cool sein kostet viel Kraft

Nicolas Kiefer muss in der ersten Runde der US Open gegen Rainer Schüttler aufgeben und setzt den Abwärtstrend fort, der dieses Jahr mit einer Erstrundenniederlage bei den Australian Open begann

aus New York DORIS HENKEL

Nachdem er vor einem Jahr an gleicher Stelle im Viertelfinale der US Open gegen Marat Safin verloren hatte, war Nicolas Kiefer trotz der Niederlage recht guter Dinge. Er habe endlich wieder das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein, sagte er, und in absehbarer Zeit werde man das sicher auch wieder an seinem Platz in der Rangliste ablesen können. Er verließ New York mit Zuversicht.

Über Kiefers aktuellen Gemütszustand ist weniger bekannt. Nachdem er am Montag im Spiel der ersten Runde zu Beginn des dritten Satzes gegen Landsmann Rainer Schüttler aufgegeben hatte, lag er zwei Stunden flach und hing am Tropf; im medizinischen Bulletin des Turnierarztes war von Dehydration als Folge von Hitze die Rede. Zum obligatorischen Frage-und-Antwort-Spiel war ihm nach der Behandlung nicht mehr zumute, aber immerhin empfing er einen Gesandten der Spielerorganisation ATP und der brachte die Antworten unter die Leute.

Kiefer erklärte darin, zu Beginn des zweiten Satzes habe er sich auf einmal sehr schwach gefühlt, es sei ihm heiß und kalt gewesen, er habe starke Kopfschmerzen und auch Probleme mit den Ohren gehabt und er habe einfach nicht mehr weiterspielen können. Nein, an der Hitze habe es nicht gelegen; vor kurzem beim Turnier in Cincinnati sei es heißer gewesen, und da habe er überhaupt keine Probleme gehabt. Sieger Rainer Schüttler hatte die zwei Stunden auf dem Platz zwar mit hochrotem Kopf, ansonsten aber unbeschadet überstanden, und so unangenehm es in der drückenden Schwüle des ersten Tages der US Open 2001 auch gewesen sein mochte, die Bedingungen reichten als Erklärung für einen Zustand am Rande des Zusammenbruchs nicht aus.

Die Erstrundenniederlage hat Folgen. In der Rangliste des Champions Race wird Kiefer ebenso zurückfallen wie in der parallel geführten alten Weltrangliste, in der er zu Beginn des Turniers auf 29 stand, nun aber mehr als zehn Plätze verlieren wird. Das ist für einen, der vor zwei Jahren mal vorübergehend die Nummer vier war und der glaubte, er gehöre ganz bestimmt zum Kreis der Allerbesten, ein ziemlicher Abstieg. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Nichts ist geworden aus den großen Plänen und auch nichts aus den leicht modifizierten nach dem Viertelfinale vor einem Jahr gegen Safin.

Die Grand-Slam-Bilanz des Jahres 2001 ist ernüchternd und schlecht. Niederlage in Runde zwei in Australien (ein Spiel in fünf Sätzen, von dem der Sieger, Jewgeni Kafelnikow, sagt: „Wenn er psychisch stabiler wäre, hätte er gewonnen“), Runde eins in Paris und New York, als bestes Ergebnis das Achtelfinale von Wimbledon nach einem viel zu verhaltenen Auftritt gegen Andre Agassi. Die Jahresbilanz insgesamt steht soeben noch im Plus mit 24 Siegen bei 23 Niederlagen, und doch ist die Statistik der harmlosere Teil der ganzen Geschichte. Hitze und Schwindelgefühle außen vorgelassen, drängt sich der Eindruck auf, Kiefer habe trotz gegenteiliger Beteuerungen keine Ahnung, wie er wieder dorthin kommen kann, wo er mal gewesen ist.

Ratlos und planlos wirkt er, auf dem Platz wie bei der Wahl der Trainer und Betreuer. In den letzten 14 Monaten hat er fünf Mann verschlissen, und kaum hatte man sich einen Namen notiert, war der schon nicht mehr aktuell. Die letzte dauerhafte Verbindung war jene mit Bob Brett, die Kiefer im Sommer 2000 nach zwei Jahren beendet hatte, danach gab es nur noch Gastspiele beliebiger Art.

Wer weiß, vielleicht gibt es ja für das alles eine gute, schlüssige Erklärung. Diesmal wartete man vergebens, weil Nicolas Kiefer auf einer Trage lag und nicht mehr reden konnte oder mochte. Seinen Kredit hat er bis auf weiteres erst mal verspielt, und das hat überhaupt nichts damit zu tun, dass es schwül und heiß war in New York. Immer nur cool zu sein und so zu tun, als wisse man schon alles, kostet auf Dauer einfach zu viel Kraft.