Die Erregung der Tourismus-Gewinnler

Sextourismus, aus der Nähe betrachtet: Mit seinem neuen Roman hat Michel Houellebecq in Frankreich den Skandal der Saison provoziert

Houellebecq schreibt gewohnt kühl – und nennt die Akteure der Branche beim Namen

von DOROTHEA HAHN

575 neue Romane kommen in dieser und den nächsten Wochen in die französischen Buchläden, davon 369 von einheimischen Autoren. Doch geredet wird derzeit bloß von einem einzigen Buch: „Plateforme“ von Michel Houellebecq hat es schon vor seinem Erscheinen zu Pressekonferenzen und Klagedrohungen gebracht, zu einer Titelseite der Tageszeitung Le Monde und zu öffentlichen Debatten zwischen Bewunderern und Gegnern des Autors. Das Buch wird, das steht bereits fest, ein Kassenschlager werden.

Ein Grund für den Erfolg ist das Thema. Es liegt so mitten im Trend, dass jemand wie Houellebecq, der die literarische Auseinandersetzung mit dem Thema Genmanipulationen bereits hinter sich hat, es unmöglich auslassen konnte: Sextourismus in die Dritten Welt. Frankreich interessiert sich spätestens für das Sujet, seit im letzten Jahr mehrere Männer wegen Pädophilie im Ausland zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt wurden und seit Air France Film-Spots drehte, die auf Fernflügen gezeigt werden und vor sexuellem Missbrauch von Kindern warnen – „ganz egal wo auf der Welt“.

Michel Houellebecq bietet das Sujet mal wieder eine Plattform zur Ausbreitung von erotischen Phantasmen. Sein neuer Roman ist – mehr noch als die beiden vorausgegangenen Romane („Ausweitung der Kampfzone“, 1994, und „Elementarteilchen“, 1998) – von Sperma durchtränkt. In „Plateforme“ beschreibt Houellebecq Details aus Bordellen in Thailand und Bars in Kuba, nimmt die finanzielle Logik und moralische Skrupellosigkeit von Reiseveranstaltern in den Zentralen in Europa unter die Lupe und drischt auf die „protestantisch-humanitären Idioten“ ein, die in Reiseführern vor dem modernen Sklavenhandel mit Frauen und Kindern warnen. Für den Romandhelden ist der Sextourismus „die Zukunft der Welt“ – die einzige Form des Austauschs mit jenen, die „nichts haben als ihre Körper“.

Zum Erfolg des neuen Romans trug entscheidend bei, dass Houellebecq die Akteure der Branche beim Namen nennt. So sind die französischen Reiseveranstalter und ihre Chefs, die einzig auf Aktienkurse und Belegzahlen von Hotelbetten schauen, kein bisschen verfremdet. Auch die deutsche TUI, die bei ihm die Hauptrolle in der Werbung für ein neues Sex-Urlaubs-Konzept spielt – „weil das in Frankreich niemals so durchginge“ – und das Gros der Touristen in die Bordelle transportiert, kommt als Unternehmen namentlich vor. Bloß ihr Chef hat einen fiktiven Namen: Im Roman heißt er Gottfried Rembke.

Ins Visier genommen hat Houellebecq auch einen anderen Tourismus-Gewinnler: den „Guide du routard“, ein Buch, das so gut wie jeder reisende Franzose im Gepäck hat. In den locker geschriebenen, alljährlich aktualisierten Führern, die sowohl in die französische Provinz als auch in die entlegensten Weltgegenden führen, stehen die Wegbeschreibungen zu den Rotlichtvierteln zwischen den Zeilen.

Offiziell distanzieren sich die Autoren der Thailand-Ausgabe des „Guide du routard“ schon in der Einleitung von „sexueller Ausbeutung“. Und der Chef des Verlags, Philippe Gloasguen, reagierte auf den Roman, als hätte ihn Houellebecq zu Werbezwecken engagiert: Er organisierte eine Pressekonferenz, brüstete sich seiner moralischen Werte und bezeichnete den Schriftsteller als Apologeten von „Prostitution und Pädophilie“. Damit war der Skandal da.

Einige Intelektuelle intervenierten gegen Houellebecq, andere kündigten eine strenge Auseinandersetzung mit „Plateforme“ an. Michel Houellebecq selbst dagegen verfolgt die Debatte aus der Ferne, ohne sich einzumischen. Seit einiger Zeit lebt er in Irland, und während sein neues Buch in Frankreich an die Kritiker verschickt wurde, war er in Thailand und auf den Kanaren unterwegs – unter anderem, um die erste Ausgabe einer neuen Literatursendung im französischen Fernsehen vorzubereiten, bei der er der erste Hauptgast sein wird. Denn Houellebecq ist derzeit der größte Literaturstar seiner Generation.

Der 43-jährige gelernte Agraringenieur Houellebecq, der erst Anfang der 90er-Jahre in die Literatur einstieg, kann seelenruhig abwarten, bis er von anderen Pariser intellektuellen Größen „rehabilitiert“ wird. Denn: Er hat kein sexistisches Buch geschrieben. Auch kein rassistisches. Er hat in „Plateforme“ lediglich sein Sujet aus extremer Nähe beobachtet und extrem nah beschrieben. In einem unpathetischen, kalten, vielfach zynischen Stil. Ohne Leidenschaft und ohne Parteinahme, wie üblich.

Houellebecqs Helden bleiben flach: Es sind Menschen, die getrieben sind. Ganz egal ob sie oben oder unten stehen. Ob sie aus der Ersten oder Dritten Welt kommen. Ob sie Prostituierte oder Kunden sind. Es sind Opfer, die sich nicht als solche fühlen und die eine Maschinerie in Gang halten – in diesem Fall den Sextourismus – auf deren Verlauf sie scheinbar keinen Einfluss haben. Brutal, drastisch und vulgär – so vulgär wie in an einem beliebigen französischen Kneipentresen – ist bei Houellebecq nur die Sprache. Vor allem, wenn es um Mösen, steife Schwänze und knackige Ärsche geht.

Was den Roman von anderen Pornogeschichten unterscheidet und für viele erst lesbar macht, sind die intellektuellen Querverweise, die Zitate von Soziologen und Philosophen, die Hinweise auf Schriftsteller sowie die Themensetzung, für die selbst Le Monde dem Autor in einem Kommentar gedankt hat. Der Literaturkritiker vom Nouvel Observateur, ein überzeugter Houellebecq-Fan, ist bereits davon überzeugt, dass „Plateforme“ in diesem Herbst den Prix-Goncourt verdient.

Michel Houellebecq: „Plateforme“. Flammarion, Paris, 370 Seiten, 20 Euro