Ägyptische Moderne

Selbstfindung durch Vergessen: El Medina – Die Stadt im Metropolis  ■ Von Jakob Hesler

Ali will Schauspieler werden. Um in Kontakt mit sich selbst und der Welt zu kommen. Das klingt paradox, denn, wie ein ägyptisches Sprichwort sagt: Schauspieler lügen. Sie geben für echt aus, was es nicht ist. Es ist allerdings schon weniger paradox, wenn in Wirklichkeit schon die Wirklichkeit lügt. Keiner in Alis Umgebung versteht seinen Wunsch, aber jeder hat eine Rolle für ihn parat. Der Vater sieht ihn als Teilhaber seines Gemüsestands auf dem Markt des Kairoer Viertels Rod-El-Farag. Seine Freunde sehen ihn als Sänger der gemeinsamen Band. Sie schreiben fröhliche Lieder, „Rod-El-Farag, du Blumengarten“, aber sie singen alle ziemlich falsch. Nadia sieht in ihm ihren Supermann, aber das sagt sie ihm nicht, sondern redet von ihrem Verflossenen. Zwischen den beiden angeschnittenen Gesichtern im weiten Hintergrund der Fluss und die Stadt.

Vor diesem Kairo flieht Ali nach Paris und kehrt schließlich zurück. El Medina (1999), aus Geldmangel – aber gekonnt – digital gedreht, findet für jeden Akt der odysse-ischen Selbstsuche den angemessenen filmischen Rhythmus. Das ers-te Drittel ist bunt, schnell, bewegt, dabei in seiner vermeintlichen orientalischen Fülle merkwürdig haltlos. Die Paris-Sequenz, an der Claire Denis (Beau Travail) mitgewirkt hat, ist ruhiger geschnitten, bringt dunklere Farbigkeit. Alis Erfüllung bringt sie nicht. Hatte er zu Hause noch vor einem Plakat von Raging Bull Robert de Niro imitiert, so wird er nun, welcher Hohn, Pseudoboxer in abgekarteten Kämpfen – tatsächlich ein lügender Schauspieler. Als Illegaler lebt er in billigen Hotels, draußen die Demos der „Sans Papiers“. Politik nicht als Thema, sondern als eine Lebensbedingung unter anderen. Was in Kairo die brutalen Razzien der Marktbehörde waren, sind hier die der Ausländerpolizei. Eines Tages hat Ali (Bassem Samra) genug und schlägt im Ring zurück. Aber zuerst verpasst er frech sich selbst einen eleganten Haken. Einer der wenigen Momente, in denen wir den zukünftigen Mimen wirklich schauspielern sehen. Bassem Samra spielt Ali mit stoischer Statik. Die immer gleiche Schönheit seines kräftigen Gesichts steht für jene Leere, in deren Füllung die klassische Aufgabe einer Selbstfindungsgeschichte liegt.

Deren Muster treibt Regisseur Yousry Nasrallah in einer perfiden Wendung auf die Spitze. Wer die Entfremdung in der Fremde nicht überwindet, sondern mitnimmt, der muss sie eben – vergessen. Die Boxmafia ist sauer und fährt Ali über den Haufen, er verliert sein Gedächtnis und fast das Leben. Schade, daß Nasrallah mit der wundersamen Errettung durch einen Schwesternengel zum dramaturgischen Holzhammer greift; überflüssig, daß er die Amnesie surreal bebildert. Aber nicht weiter schlimm, denn der Schlussteil des Films wechselt erneut schlüssig den Stil: Er spielt in Alis Kopf. Die innere Stimme kommentiert verwundert die neue Umwelt und mischt sich verwirrend in die Dialoge mit all diesen Fremden, die seine Freunde sein sollen. Jetzt kann er sie neu gewinnen, eine Beziehung zu seiner Mutter aufbauen, kann endlich Nadia lieben. Dabei beschert ihm die Gnade des Vergessens eine einzige Erinnerung: die an seine Berufung. Ali wird, natürlich, Schauspieler. Dieser große Handlungsbogen mit seinem prä-postmodernen Vertrauen auf die verschüttete Kraft des Selbst unter den sozialen Verkrustungen mag konventionell erscheinen. Doch er hält das breite Themenbündel des Films – vom Freundesverrat bis zur Homosexualität – überzeugend zusammen.

Sinn macht dieser Ansatz gerade angesichts der Tendenzen kultureller Nostalgie bei manchen arabischen Intellektuellen, gegen die sich Nasrallah in einem Interview gewendet hat. Und so singt sein Film nicht das Loblied des Wiedererlangens der Wurzeln, sondern das des Subjekts. Um so bemerkenswerter, als das traditionsreiche ägyptische Kino heute zwischen globalisiertem Hollywood und seichten einheimischen Komödien zerrieben wird. Wenn El Medina (Spezialpreis der Jury in Locarno) in Kairo eine Woche läuft, dann sei er schon froh, meint Nasrallah, früherer Assistent von Ägyptens Altmeister Youssef Chahine. Ihm entbietet er einen vielsagenden Gruß: Nach einem gescheiterten Casting sieht Ali mit Freunden im Schaufenster eines Radiogeschäfts eine Szene aus Chahines Bar El-Habib (Cairo Station, 1958). Die großartig großmäulige Hind Rostom, Star ihrer Zeit, wäscht darin ihrem ungeliebten Verehrer den Kopf. „Du willst mich heiraten? Aufs Dorf ziehen, Kinder machen? Damit unsere Kinder später wieder Kinder machen?“ Kulturelle Identität ist etwas zum Davonlaufen. Heute wie 1958.

Premiere in Anwesenheit des Regisseurs: Freitag, 20 Uhr; weitere Vorstellungen: Sa 19.30 Uhr, So 19 Uhr, Mo 17 Uhr, Di 21.15 Uhr, Metropolis