Verschlossen im Tresor der Wut

Bringt sich jemand um, wird das oft totgeschwiegen. Ein Angehöriger erzählt  ■ Von Sandra Wilsdorf

Zehn Jahre lang war der Vater unaussprechlich tot. Zehn Jahre lang waren Schock und Erstarrung so groß, dass niemand darüber sprach, dass er selbst den Tod dem Leben vorgezogen hatte. Dass der Ehemann und Vater von fünf Söhnen 1943 Schlaftabletten nahm, sich die Taschen voller Steine lud und von einer Kaimauer in die Elbe sprang.

Der älteste der Söhne, der damals 17 Jahre alt und an der Ostfront war, ist inzwischen gestorben. Die anderen haben erst vor einigen Jahren als inzwischen alte Männer begonnen, miteinander über den Suizid ihres Vaters zu sprechen. Über einen Tod, der lebenslange Folgen für sie selbst hatte. Einer, der das am eigenen Leib erlebt hat, ist der Enkel des verstorbenen Bruders. „Die Jungs und später die Männer haben einander und sich selbst auf die kleinsten Anzeichen psychischer Erkrankungen hin beobachtet.“ Ihre Sprache war die der Psychiatrie, jede pubertäre Rebellion wurde als krankhaft gewertet. Die Folge: „Mein Vater hat immer versucht, heftige Gefühle zu vermeiden, er hat sich nie die ganze Bandbreite menschlichen Erlebens zugestanden, darunter habe ich sehr gelitten“, sagt der Enkel, der heute selber Kinder hat und Arzt geworden ist. Übrigens wie sein Vater und der Großvater. Für drei der Brüder wurde die Angst zur self fullfilling prophecy: Zwei von ihnen nahmen jahrzehntelang Antidepressiva, ein anderer entwickelte eine Psychose.

Der Enkel erinnert sich, dass er als kleiner Junge mit Oma und Tante unterwegs war und nach seinem Großvater fragte. „Das sollen die Kinder noch nicht wissen“, hörte er die Tante sagen und wusste, dass die Antwort, „der ist an Magenkrebs gestorben“, eine Lüge war. Mit zehn wurden ihm und seiner Schwester eine Annäherung an die Wahrheit zugetraut: Der Großvater habe sich umgebracht. Erklärt wurde ihnen das zunächst mit körperlichen Krankheiten und einer großen Traurigkeit, später dann mit manischer Depressivität. Nebenbei gab es noch die Theorie, der Opa habe nicht ertragen, dass die Nazis ihn in den nationalsozialistischen Bund der Ärzte zwingen wollten.

Heute hat der Enkel sich sein eigenes Bild gemacht: „Mein Großvater war der gute Arzt, der gute Vater, der gute Kirchenvorsteher.“ Der strenggläubige Christ hatte eine Praxis in Barmbek. Und obwohl das seiner pietistischen Überzeugung widersprach, führte er Abtreibungen durch, bei Frauen in Not. In seinem Weltbild war Leben etwas, was Gott gab und nahm. Und doch setzte er sich am Ende darüber hinweg. „Ich habe Reden und Briefe von ihm gelesen, er hatte etwas sehr Hartes, Lebensverneinendes und Pflichterfüllendes“, erzählt der Enkel. Bei einer Hochzeit sprach er von der Ehe als einer Pflicht, „die wir auf uns nehmen“. So mag er selbst es empfunden haben, denn es gibt Hinweise darauf, dass er seine eigene Schwester mehr liebte und begehrte als seine Frau. „Er muss das Gefühl gehabt haben, etwas Furchtbares in sich zu tragen und sich mit einem Selbstmord dem Bösen zu ergeben.“ Die Schwester, die für ihn als Krankenschwester gearbeitet hatte, blieb allein.

Für Reinhard Lindner, Psychiater und Psychotherapeut am Therapiezentrum für Suizidgefährdete, ist diese Familiengeschichte ganz typisch: „So ein Suizid ist für Angehörige oft eine ungeheure Tat, ein Affront“, sagt er. Man verbietet sich Gefühle wie Wut und Ärger, vergräbt sie unter erlaubten Emotionen wie Trauer und Schuld. „Dabei ist es wichtig zu erkennen, dass auch die Wut sein darf.“ Denn wenn man Schrecken und Schuldgefühle nicht benennt, verschließt man sie in sich wie in einem Tresor. „Sie suchen sich an anderer Stelle ein Ventil.“ Häufig in der Erziehung der eigenen Kinder.

Die ganze Bandbreite der möglichen Gefühle sei wichtig. „Dann ist es möglich, auch von einem Menschen Abschied zu nehmen, dessen Suizid einen sehr belastet hat.“

Heute beginnt in Hamburg der Kongress „Suizidalität“