Entschädigung auf Amerikanisch

Es geht um die Umverteilung von Wohlstand unter Berufung auf altes Unrecht. Und es geht um Symbolik, um ein offenes Bekenntnis der Reue

aus Washington ANDREA BÖHM

Die Firma Aetna ist Amerikas größter Konzern für Lebensversicherungen und als solcher schon aus PR-Gründen zur Wohltätigkeit verurteilt. Aetna finanziert Gesundheitsprojekte in armen Wohnvierteln, sponsert Museen und feiert berühmte Afroamerikaner mit einem „Black History Calendar“. Solchermaßen erfüllt von Respekt für die schwarzen Helden der Vergangenheit hatte der Konzern allerdings ein Kapitel seiner eigenen Geschichte überblättert. Mit Gründung der Firma 1850 versicherte Aetna Life Insurance auch Sklaven. Die Versicherungssummen waren bei Tod oder Flucht an den Besitzer auszuzahlen. Eine New Yorker Anwältin hatte mehrere solcher Fälle in mühevoller Kleinarbeit recherchiert und letztes Jahr, ausgerechnet zum 150-jährigen Jubiläum des Unternehmens, veröffentlicht. Die Konzernleitung brachte ihr „tiefstes Bedauern“ zum Ausdruck, sah aber zu „weiteren Schritten keinen Anlass“.

Erledigt? Keineswegs.

Seit ein paar Monaten treffen sich in Washington afroamerikanische Anwälte, Historiker und Ökonomen, um die womöglich größte Welle von Zivilklagen in der amerikanischen Geschichte vorzubereiten: Entschädigung für das Unrecht der Sklaverei. Federführend sind Charles Ogletree, Rechtsprofessor an der Harvard-Universität, sowie Randall Robinson, Direktor des TransAfrica Forum, einst Galionsfigur der amerikanischen Anti-Apartheid-Bewegung, jetzt Autor des Bestsellers „The Debt – What America Owes To Blacks“.

Unamerikanische Provokation

Dazu gesellt sich ein Dream Team von Topjuristen aus den Fachgebieten Bürgerrechte, Schadensersatz- und Strafrecht – einschließlich des unvermeidlichen Johnny Cochran, Strafverteidiger von O. J. Simpson. Anfang nächsten Jahres sollen die ersten Klageschriften vorliegen. Auf der Liste potenzieller Beklagter stehen die Bundesregierung, der Bundesstaat Mississippi, das US-Handelsministerium, die Bank JP Morgan Chase & Co, die Versicherungskonzerne Aetna oder New York Life Insurance.

Auf acht Billionen Dollar hat eine „National Coalition of Blacks for Reparations in America“ die Schuld beziffert, was ungefähr dem Bundeshaushalt der letzten fünf Jahre entspricht. Von solchen Summen distanziert man sich im Dream Team geflissentlich. Man will nicht mit aberwitzigen Forderungen vorab diskreditieren, was viele Weiße ohnehin als zutiefst unamerikanische Provokation empfinden.

„Erklären Sie mal einem Taxifahrer, der vor ein paar Jahren aus Polen eingewandert ist, warum von seinen Steuern Wiedergutmachung gezahlt werden soll und warum er Millionen durchaus wohlhabender Afroamerikaner als Opfer ansehen soll“, sagt Stuart Taylor, konservativer Kolumnist für Newsweek und The National Journal. Reparationen für Shaquille O’Neal oder Whitney Houston? 136 Jahre nach Ende der Sklaverei, 40 Jahre nach der Bürgerrechtsbewegung, rund 30 Jahre nach dem Beginn von staatlichen Programmen zur Minderheitenförderung? Enough is enough.

Laut Umfragen denkt die Mehrheit der weißen Amerikaner so. Die Mehrheit der Schwarzen hingegen fragt sich: Genug wovon? Es gibt Minderheitenförderung, gewiss. Eine afroamerikanische Mittelschicht hat sich herausgebildet, Colin Powell ist der erste schwarze Außenminister, und Tiger Woods’ Einmarsch in die weiße Domäne des Golfplatzes findet größeres Medienecho als die trockenen Statistiken: Afroamerikaner stellen 13 Prozent der Gesamtbevölkerung und 48 Prozent aller Gefängnisinsassen. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei Schwarzen sechs Jahre niedriger als bei Weißen. Das Einkommensmittel weißer Familien lag 1998 bei 49.000 Dollar, das schwarzer Familien bei 29.000 Dollar. Die Arbeitslosenrate ist doppelt so hoch. 10 Prozent aller Weißen und fast 25 Prozent aller Schwarzen leben unter der Armutsgrenze. Rassismus auf Seiten der Polizei ist allgegenwärtig. Enough is enough.

Dem Reparations Movement geht es um zweierlei: um die offizielle Anerkennung eines Verbrechens an Millionen Schwarzen und um den Nachweis, dass dessen Folgen bis heute nicht beseitigt sind. Denn es hat nach Ende des amerikanischen Bürgerkriegs 1865 nie ein Reuebekenntnis des amerikanischen Staates, geschweige denn einen Cent Entschädigung für die Opfer der Sklaverei gegeben.

Die vier Millionen befreiten Schwarzen des Südens erhielten nie die versprochenen „Forty Acres and a Mule“, vierzig Acres Land und ein Maultier. Auf den kurzen Hoffnungsschimmer der Ära der Rekonstruktion folgte die faktische Leibeigenschaft landloser Schwarzer, es folgten Lynchmorde und Rassentrennung. Die Bürgerrechtsbewegung erzwang vor Gericht und auf der Straße die Aufhebung der Rassentrennung im öffentlichen Leben, doch gleichzeitig setzte die Massenflucht der weißen Stadtbewohner und der Unternehmen in die Suburbs ein. Kurz nach der rechtlichen Gleichstellung der Schwarzen Mitte der Sechzigerjahre habe der amerikanische Staat dem „sozialen Trümmerhaufen von Jahrhunderten weißer Hegemonie“ den Rücken zugewandt, sagt Randall Robinson vom TransAfrica Forum. An die Stelle des „Kriegs gegen die Armut“ trat der Krieg gegen die Armen, der Rassismus wurde chiffriert: „Sozialhilfeempfängerin“ oder „Drogenhändler“ sind zum Synonym für „Schwarze“ geworden.

In der Ära des „mitfühlenden Konservatismus“ sorgt dies für reichlich politischen Zündstoff. Die juristischen Fragen bleiben allerdings unbeantwortet: Wie – und in wessen Namen – will man 136 Jahre nach Abschaffung der Sklaverei finanzielle Kompensation für vergangenes Unrecht geltend machen? Kann man eine Zivilklage auf den Vorwurf der illegalen Bereicherung aufbauen? Wie steht es mit Verjährungsfristen? Soll es Sammelklagen geben oder soll eine Organisation stellvertretend als Klägerin auftreten?

Opfer begangenen Unrechts

Was Einzelheiten seiner juristischen Strategie angeht, so hält sich das Dream Team bedeckt. Man verweist auf Präzedenzfälle: 1,25 Milliarden Dollar zahlte die US-Regierung 1988 an Entschädigung für die Internierung von Japano-Amerikanern während des Zweiten Weltkriegs – nicht nur an noch lebende, direkt Betroffene, sondern auch an deren Nachfahren. 2 Millionen Dollar gewährte der Bundesstaat Florida 1994 per Gesetz den Nachkommen der Opfer des Massakers von Rosewood. Dort hatte ein weißer Mob 1923 ein schwarzes Wohnviertel zerstört und sechs Menschen getötet. Robert Westley, Jura-Professor an der Tulane-Unversität in New Orleans und Mitglied des Dream Teams, beruft sich auf das Konzept der Wiedergutmachung und seiner vertraglichen Umsetzung 1952 im Luxemburger Abkommen zwischen Deutschland, Israel und der Jewish Claims Conference. Westley betont die moralische Verpflichtung einer Nachfolgeregierung zur Wiedergutmachung an den Opfern vergangenen Unrechts, in diesem Fall Sklaverei, Rassentrennung und De-jure-Diskriminierung bis weit ins 20. Jahrhundert.

Moralische Verpflichtung ist aber keine justiziable Kategorie, sondern eine Frage des politischen Drucks. Darin mag die eigentliche Bedeutung der geplanten Zivilklagen liegen. Ob vor Gericht auch nur ein Dollar Entschädigung erstritten wird, ist völlig offen. Doch eine öffentlichkeitswirksame Serie von Prozessen, über Monate und Jahre gestreckt, kann und soll eine neue große Debatte über die Schwarzen und die Weißen in den USA auslösen – eine Kakophonie wütender und besonnener, optimistischer und verbitterter Stimmen in Talkshows, Schulen, Universitäten, Kirchen und im Internet. Kurzum: eine Katharsis, die genügend politischen Rückenwind erzeugt, um eine parlamentarische Kommission zu den Folgen der Sklaverei einzusetzen. Ein entsprechender Antrag dümpelt seit elf Jahre im US-Kongress. Sollten die Demokraten bei den Kongresswahlen im Herbst die Mehrheit im Repräsentantenhaus gewinnen, wird sie wohl eingesetzt. Die Demokratische Partei steht dem Anliegen keineswegs geschlossen wohlwollend gegenüber, aber es gilt, eine schwarze Wählerschaft bei der Stange zu halten, deren Wut über die „gestohlene Präsidentschaftswahl“ noch lange nicht verflogen ist. An der Basis wächst der Druck: Die Stadtverwaltungen von Washington, Dallas, Cleveland, Chicago und Detroit sowie das kalifornische Parlament haben den Gesetzesantrag durch Resolutionen unterstützt. Unter dem Punkt „Empfehlungen für Kompensation“ ist von individuellen Schecks an Nachfahren von Sklaven keine Rede, wohl aber von Investitionen in desolate schwarze Wohnviertel, ins Schulwesen, den Gesundheitssektor und Resozialisierungsprogramme. Mit anderen Worten: Es geht um sozialstaatliche Maßnahmen unter dem Vorzeichen der Wiedergutmachung, es geht um die Umverteilung von Wohlstand unter Berufung auf altes Unrecht.

Ein Prozess „nationaler Heilung“

Das so offen auszusprechen, brächte einem sofort den Vorwurf linksliberaler Nostalgie ein und würde mit Verbannung aus dem politischen Talkshow-Zirkus von nicht unter einem Jahr bestraft. Also kleidet Randall Robinson, der inoffizielle Sprecher des „reparations movement“ sein Anliegen in die Sprache des Therapeuten: Er schreibt und redet viel vom kollektivem Ich-Verlust der Schwarzen, von „emotionaler Fahnenflucht“ und einem Prozess der „nationalen Heilung“ durch Wiedergutmachung.

Es geht ja tatsächlich nicht nur um Geld und neue sozialstaatliche Investitionen. Es geht auch um Symbolik, um ein offizielles Bekenntnis der Reue. Bill Clinton, der Meister des schnellen Mitleidens, wäre für einen solchen Auftritt zweifellos besser geeignet als der rhetorisch minderbemittelte George W. Bush. Aber womöglich muss sich erst dessen Nachfolger damit beschäftigen.

Es dürfte schwer sein, ein solches Ritual frei von Heuchelei und falschem Pathos zu halten – auf beiden Seiten. Besser wäre da schon die Einweihung eines afroamerikanischen Museums, um das seit Jahren gestritten wird. Es soll mitten im nationalen Wallfahrtsort stehen, dem beeindruckenden Museums-und Denkmalpark zu Füßen des Kapitols, wo George Washington und Thomas Jefferson geehrt werden – und ihre Rolle als Sklavenhalter geflissentlich verschwiegen wird. Dort also, wo sich das Volk im Freizeitdress des amerikanischen Traums erinnert, wonach jeder in diesem Land sich von seiner Herkunft befreien und zum Herrscher seines Schicksals erheben kann. Ein Mahnmal und Museum für die Opfer des amerikanischen Albtraums wäre allerdings ein massiver Umbau des nationalen Bühnenbilds.