: Etwas über Jandl: seinetwegen
Der österreichische Lyriker Ernst Jandl war schon zu Lebzeiten eine Legende: als Gedichteschreiber, der das Motto „Reim mich oder ich fress’ dich“ nicht besonders ernst nahm. Ein Mann, der im hohen Alter die allercharmantesten Schrullen und Sorgen und Bedenken kultiviert hat – wie die Telefonnotizen seines Lektors und Herausgebers beweisen
von KLAUS SIBLEWSKI
Eine Notiz zur Einführung : Zwanzig Jahre lang hat Klaus Siblewski mit Ernst Jandl zusammengearbeitet. Siblewski war der Lektor und Herausgeber des im vorigen Jahr verstorbenen österreichischen Lyrikers. Seit Mitte der Neunzigerjahre wurde das Telefon zum wichtigsten Medium dieser Zusammenarbeit. Jandl und Siblewski sprachen häufig mehrmals in der Woche, gelegentlich sogar mehrmals am Tag miteinander. Diese Telefonate hielt Klaus Siblewski in Notizen fest, die in ihrer Summe ein eigenwilliges Porträt, beinahe gar ein Tagebuch Jandls ergeben.
25. 9. 1998
HOCHVERRAT, HOCHVERRAT! Er sei in einen Fall von Hochverrat verwickelt. Singt: „Donau so blau, so blau, so blau . . .“ Vorläufig sei die Donau noch blau, bald vielleicht rot. Ich solle ihm die Daumen drücken und ihm alles Gute wünschen, dass dies auch so bleibe. – Seine Bitte: Der Verlag, also ich, solle sich dringend mit der Akademie der Künste und dort mit Karin Kiwus in Verbindung setzen.
Es gehe um eine Fotografin, deren genaue Adresse und Telefonnummer jetzt dummerweise weg sei – diese Fotografin habe Friederike Mayröcker angerufen und ihr gesagt, er und sie, also Friederike Mayröcker und er, Ernst Jandl, seien von rechtsradikalen Kreisen bedroht, und diese Bedrohung stünde in Zusammenhang mit Auftritten und Lesungen, auch der Lesung in Berlin, die jetzt bevorstehe. Von Anschlägen sei nicht die Rede, aber von Bedrohung.
Ob ich in letzter Zeit von Herbert Achternbusch etwas gehört hätte? Diese Frau habe gesagt, Achternbusch sei ein Unfall zugestoßen. Möglicherweise handele es sich bei dieser Fotografin um eine partiell beziehungsweise total verrückte Person – aber ich würde Achternbusch doch kennen und hätte ihm doch erzählt, dass Achternbusch ganz in meiner Nähe wohne, ob es mir denn nicht möglich sei, bei ihm vorbeizugehen und mich nach seinem Gesundheitszustand insbesondere dem in der letzten Zeit zu erkundigen?
27. 9. 1998
Mehrmals versuche ich Jandl zu erreichen. Niemand geht an den Apparat. Jandl ist immer nach ein-, zweimaligem Läuten zur Stelle. Dass niemand abnimmt und Jandl auch nicht gesagt hat, dass er für längere Zeit weg sei, ist ungewöhnlich, besonders da in nächster Zeit Lesungen anstehen.
30. 9. 1998
Nein, nein, es sei alles in Ordnung. Nur. Er schwitze viel. Schwitzen sei aber etwas, womit er große Erfahrung habe. Positive Erregung, wenn er es positiv sehen wolle. Nach der Lesung in Berlin und danach wieder in Zürich sei er total fertig gewesen. Letzte Nacht in Zürich habe er mindestens vier Stunden zu wenig geschlafen. Am Flughafen seien dann die Computer ausgefallen, unbeholfen sei alles Notwendige mit der Hand gemacht worden. Das habe entsetzlich lange gedauert. Nun sei er aber wieder zurück. – Von einer Studentin sei ihm „ottos mops“ mit Zeichnungen zugesandt worden. Fantastisch sehe dieses kleine Buch aus. Wenn man das verlagsmäßig drucken würde, könnte man davon zwanzigtausend und mehr Exemplare absetzen. Das sei eine Frage des Umgehens mit diesem Buch.
Nur mir, damit ich mir gleich eine genauere Vorstellung von diesem Buch bilden könne, sage er auch dessen Maße: 14,4 Zentimeter in der Breite und 10,4 Zentimeter hoch. Einen steifen Umschlag um das Ganze herum und dann nicht zu viel dafür verlangt, mehr als 17,80 DM auf keinen Fall, und wir hätten genauso unsere Freude an diesem kleinen Band, wie er seinen Spaß daran gefunden habe. Es müsse ein Objekt für Schulen und Schüler sein, und wenn es das wäre, schon gehe es los. – Jetzt in Berlin habe er wieder einmal Friederike Mayröcker lesen hören: So durchdringend sei ihr Vortrag gewesen, aus „brütt“ und aus früheren Büchern, das habe für ihn etwas sehr Schönes gehabt.
1. 10. 1998
Morgen, wolle er Bescheid sagen, komme der Gips von seinem Arm ab. Schrecklich würden dann Arm und Hand aussehen, wie der Arm und die Hand eines Toten – wie von jemandem, der im Sarg liege. Er selber werde sich auch gleich hinlegen. Er sei noch müde von den Fahrten und Lesungen. Bevor er sich jedoch hinlege, trinke er noch ein Glas Bier und rauche eine kleine Zigarre, eine Zigarre der Marke Davidoff. Eine Kiste davon habe er sich in Zürich gekauft, und auf diese Weise hätte ich auch immerhin erfahren, dass er nicht in Berlin, sondern auch noch in Zürich gelesen habe.
3. 10. 98
Seine Heftigkeiten solle ich bitte entschuldigen.Wieder habe es stundenlange Telefongespräche mit Veranstaltern gegeben, die von ihm genau wissen wollten, was er lesen werde. Unglaublich! Am Ende beginne er noch komplette Listen mit den Titeln der Gedichte zu versenden, die er vortragen wolle. Die Veranstalter dächten wohl, er brauche nur ins Regal zu greifen, und schon sei die Lesung fertig. Denen müsse gesagt werden, dass es jedesmal Arbeit sei, diese Leselisten zusammenzustellen. Das fließe an ihm doch nicht einfach vorbei. Deshalb seien CDs für ihn auch so wichtig. – In dem Zusammenhang wolle er mich fragen, ob ich nicht meine Idee von früher wieder aufgreifen, die Lesungen von ihm mitschneiden lassen und seine Gedichte alle in gesprochener Form herausgeben wolle? Von der Lesung in Berlin gäbe es einen Mitschnitt, aus Zürich sende man ihm auch ein Band zu. Obwohl, obwohl: Nachher, entnehme er dem Tagesplan von heute, stehe zwischen 20 und 21 Uhr das Abhören des Berliner Bands auf dem Programm, und er befürchte schon jetzt, dass die Lesung in Berlin wiederholt und nochmals aufgenommen werden müsse. Was dann? Die Anstrengungen, die für hörbare Gesammelte Werke alleine von ihm unternommen werden müssten, seien gewaltig. Und auch wieder nicht: Bei einer Wiener Plattenfirma liege noch ein Mitschnitt einer seiner „stanzen“-Lesungen und verfaule dort.
4. 10. 1998
Ob ich ihm mein Ohr leihen könnte, ein Ohr und vielleicht noch ein Stück meines Verstandes und die Hälfte von meinem Herzen dazu: Er schlage vor, mir vor, sämtliche österreichischen Tageszeitungen müssten für einen Abdruck seines Gedichts „16 jahr“ gewonnen werden, wider die Hetzerei gegen Ausländer. Das sei sein Beitrag zu den bevorstehenden Wahlen. Was ich davon hielte?
5. 10. 1998
1. Anruf
Ob ich in zehn Minuten nochmals anrufen könne, im Augenblick sei er nicht sprechfähig.
2. Anruf
Ihm gehe es auch ohne Gips nicht unbedingt gut. Mit Gips, dafür aber längerem Gutgehen am Stück hätte er nichts einzuwenden. – Einen herrlichen Hustenstiller habe er aufgetrieben. Paracodin. Er müsse sehr viel husten, und er habe das Medikament ohne Rezept bekommen. In den Apotheken kenne man ihn, da erhalte er auch andere Mittel und nicht nur die Mittel, die ohne Rezept verkauft würden. Paracodin – er könne nur sagen: wunderbar. Es unterdrücke für Stunden den Husten. – Wenn ich auf der Buchmesse sei, könne ich tatsächlich für ihn etwas tun. Es wäre gut, wenn ich mich bei englischen und amerikanischen Verlagen ein wenig herumtriebe und herauszufinden versuchte, welche Chancen dort Übersetzungen seiner Gedichte eingeräumt würden. Auch französisch, italienisch, spanisch, polnisch, russisch – alles in höchstem Maße willkommen und eine tolle Angelegenheit. Doch Vorsicht vor dem Übersetzer, der sein Stück „Aus der Fremde“ ins Französische übertragen habe, dieser Mann habe alles, tatsächlich alles in den Indikativ gesetzt. Ein Stück, das extra den Konjunktiv gebrauche, im Indikativ. Auch wenn es in einer Sprache keinen Konjunktiv wie bei uns gebe, müsse man auf Ersatzformen ausweichen und könne nicht einfach so tun, als habe der Konjunktiv im Stück keine Bedeutung. Dieser Übersetzer sei dann wütend gewesen, als er ihm gesagt habe, dass „Aus der Fremde“ so nicht übersetzt werden könne, und sei dann herumgelaufen und habe getönt: Herr Jandl kann ja so gut Französisch, dass er die Qualität seiner Übersetzung beurteilen kann.
3. Anruf
Es würde ihm eine große Freude bereiten, wenn ich auf der Buchmesse etwas erreichte. Ihm gehe es nicht gut. Er sei allenfalls halb angezogen und gesundheitlich in einem fürchterlichen Zustand. Um 7 Uhr treffe Friederike Mayröcker ein, sie hätten sich mit den Hauptdarstellern von „Chicago“ verabredet.
Die Melodien dieses Musicals seien sehr vom Jazz durchdrungen, und bei der Premiere seien sie aber nicht in Wien gewesen, und nur die Wiener Halbschriftsteller seien dort gewesen. Die richtigen Schriftsteller schauten sich „Chicago“ erst hinterher an – das bringe es.
14. 10. 1998
Dr. Seelgros, einem Gerontologen, würde er gerne ein Exemplar seiner Werkausgabe schenken. Ob ich ihm durch den Verlag die Bücher an seine Adresse senden könne, nicht an das Postfach, damit er die Bücher nicht nach Hause tragen müsse. – Er wolle aber noch etwas sagen: Es sei fast Nacht, er habe nur einen Schlafrock an, sonst nichts, geheizt habe er auch nicht, aber dem könne abgeholfen werden –, also was er sagen wolle: Friederike Mayröcker habe heute einen Brief in Sachen ihrer Lesung in Berlin erhalten. Im Vergleich mit Edith Clever, werde ihr mitgeteilt, schneide sie weniger gut ab, und man frage sie, ob sie unter diesen Umständen eine Veröffentlichung ihrer Lesung noch wolle. Das nehme sie furchtbar her.
Friederike Mayröcker betreibe ihre Arbeit, das werde ihm in letzter Zeit immer klarer, mit großem Ehrgeiz, und er müsse sehr aufpassen, dass er nicht das Opfer dieses Ehrgeizes werde. Erstens weil er schon wieder nur einen Schlafrock anhabe und dauernd telefoniere und zweitens weil er die Aufnahmen gewollt habe und er es nun auch mit den Folgen dessen, was von ihm angestiftet worden sei, zu tun bekomme. Das alles stehe insofern mit Grado [hier fand ein Mayröcker-Symposium statt] in dem Zusammenhang, als er dort von einer Depression in eine Manie hineinkatapultiert worden sei und ihm seither ganz unerwartete Dinge zustießen. Er müsse manchmal schreien, fühle sich dauernd aufgewühlt – und gehe morgen definitiv zum Arzt.
30. 10. 1998
Er sage nur, Friederike Mayröcker sei Friederike Mayröcker, und Ernst Jandl eben Ernst Jandl. Das müsse doch eine Überlegung sein, die niemandem, der sie nachvollziehen wolle, eine große Leistung abverlange. Immerhin seien seit ihren Anfängen bis heute ein paar Jahre vergangen, und in diesen Jahren sei das Werk jedes Autors als das Werk dieses Autors entstanden und eben nicht als das des anderen. Wenn also eine Zeitschrift etwas über Friederike Mayröcker machen wolle, dann sei das eine gute Sache.
Wenn eine Zeitschrift etwas über Ernst Jandl machen wolle: seinetwegen. Nur warum schon wieder etwas über beide Autoren in einem Heft gemacht werden solle, sei nicht einzusehen. Seine Zustimmung, das wolle er nur sagen, werde es zu einem derartigen Vorhaben nicht geben.
6. 11. 1998
Mit Polyneuropathie habe er schon seit Jahren zu tun. Er könne sie nicht losbekommen, sie stecke bei ihm in den Beinen, die Nervenleitgeschwindigkeit sei dort in einigen größeren Abschnitten, vor allem vom Knie an abwärts, weniger spürbar, aber auch vom Knie an aufwärts, drastisch herabgesetzt. Er habe einen sehr guten Arzt und ein sehr gutes Spital gefunden, und dort gehe er jetzt alle zwei Tage hin. Ob das etwas bringe, habe er keine Ahnung. Wenn nicht, dann schneide er die Beine eben ab oder lasse sie so, wie sie da unten seit jeher dranhingen. – Ich wüsste also, wenn ich ihn nicht erreichte, warum.
9. 11. 1998
1. Anruf
Keine Ausgleichszahlung, dafür Verzicht auf das Foto ab der zweiten Auflage, mit diesem Vorschlag von mir sei er einverstanden, und dass der Doppelporträt-Vorschlag zurückgezogen worden sei, das sei wohl auch eine gute Lösung. Er bitte mich aber, die Aktivitäten dieser Zeitschrift, soweit es meine Zeit erlaube, weiter im Auge zu behalten.
2. Anruf
Ein Freund aus Hamburg habe angerufen. Krank sei er, schwer krank. Ihm wolle er seinen letzten Gedichtband zusenden, müsse Friederike Mayröcker jetzt aber fragen, sie sei da und lasse grüßen, wo sich dessen Brief befinde. Aber, Herrgott noch mal, jetzt suche sie nicht dort, wo er sie gebeten habe zu suchen. Da würde man es wieder sehen, was herauskomme, wenn jemand aus einer katholischen und noch dazu aus einer sozialistischen Familie stamme: Sentimentalitäten, nichts als Sentimentalitäten kämen dabei heraus.
Und wenn er mir auch das noch gleich sagen dürfe: Er sei ein Fan des Protestantismus, Norddeutschland, das sei seine Gegend, dort würde Präzision gedeihen und Rationalität. Oder Frankfurt, wo ich herkäme. Klare, schön aufstrebende Hochhäuser ständen da, das alles gäbe es in Wien nicht und werde von den Katholiken verhindert, die nichts Höheres als ihre Kirchen haben wollten. Also, mein Gott, diese Umständlichkeiten, wenn der Brief sich fände, rufe er wieder an.
10. 11. 1998
Er habe eine neue Wohnung. Diese Wohnung liege im 5. Wiener Gemeindebezirk, und sie habe den Vorteil, dass sie mit einem Fahrstuhl zu erreichen sei. In seine Wohnung jetzt gelange er nur über Stiegen. Es würde ihm auch als ein weiterer Vorteil beschrieben werden, dass diese Wohnung über der Wohnung von Friederike Mayröcker liege. Damit befände er sich dann andauernd in ihrer Nähe.
Allerdings müsse er erst umziehen. Wie er das bewerkstelligen solle, wisse er nicht. Die neue Wohnung stehe leer, vollkommen leer, kein Bett, kein Schreibtisch, nichts befinde sich darin. Dem müsse als erstes abgeholfen werden. Aber bevor er überhaupt an einen Umzug denken könne, habe er in seiner Wohnung erst einmal für eine grobe Ordnung zu sorgen. Das sei die Voraussetzung. Mit dem Herstellen von Ordnung sei er aber schon seit Jahren beschäftigt.
Klaus Siblewski: „Telefongespräche mit Ernst Jandl“, Luchterhand Verlag, München 2001, 190 Seiten, 18,50 Mark
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