22 Minuten bis Spiekeroog

■ Unterwegs mit Christoph 6: Das Team des ADAC-Rettungshubschraubers fliegt fürs Leben gern/1.200 mal pro Jahr hilft Christoph 6 /Oft geht es bei den Einsätzen um Leben und Tod, dann hebt der Heli ganz sanft ab und ist Minuten später schon vor Ort

Ebbe im Jadebusen, das Wasser hat kleine Verästelungen im Sand hinterlassen. „Wie Herzkranzgefäße“, meint Oliver Klingel. Der Assistent im Christoph 6 fliegt richtig gerne. Nicht, um die Aussicht zu genießen. Klingel hat schon viele Leichen, viel Blut gesehen.

Jetzt hat eine 60-Jährige am Strand von Spiekeroog einen Herzanfall erlitten. Christoph 26 in Wilhelmshaven war besetzt, der Bundeswehr-Hubschrauber auf Helgoland kaputt. Da musste der ADAC-Hubschrauber vom Krankenhaus Links der Weser ran – ausnahmsweise. Mit 280 Sachen düst der gelbe Engel Richtung Nordseeinsel. Nach 22 Minuten landet der Heli am Spiekerooger Hafen. Es sind die Minuten, die über das Leben einer Herzpatientin entscheiden können. Die Inselärztin ist froh: „Wenn wir auf ein Boot warten müssen, dauert das manchmal bis zu vier Stunden.“

Christoph 6 – einer von insgesamt gut 50 Rettungshubschraubern in Deutschland. Im Umkreis von 50 Kilometern rund um Bremen rettet er, wenn die fünf Bremer Notarzteinsatz-Fahrzeuge belegt sind. Oder, wenn die Einsatzzentrale es für nötig hält. Ein Joker, wenn es um Leben und Tod geht.

Rüdiger Englers ärgster Feind sind die Hochspannungsleitungen. Aber in 20 Piloten-Jahren hat er Glück gehabt: 700.000 Kilometer knatterte er schon per Heli durch die Luft – das reicht für etwa 17 Rundflüge um die Erde. Zum Landen von Christoph 6 braucht Engler gerade mal 30 mal 30 Meter Freiraum: Sportplätze, Schulhöfe oder Parkflächen. Engler: „Bei Karstadt auf dem Dach find ich es ungünstig, am Wall ist es wunderbar.“

Pause. Durchatmen. Kaffeetrinken in der Heli-Zentrale direkt am Krankenhaus. Alles scheint ruhig an diesem Sonntag. Und dann gibt es doch Alarm. Ein Asthmaanfall in der Neustadt. Binnen zwei Minuten hebt der Christoph sanft wie ein Fahrstuhl ab. Absprachen mit dem Lotsen des Flughafens, der Heli zischt übers Rollfeld. Engler: „Zur Not müssen die Linienflieger oben nun eine Ehrenrunde drehen – jetzt haben wir Vorfahrt.“

Kaum sind die Gurte angelegt, da landet Christoph 6 auch schon auf dem Gelände des Neustädter Straßenbahndepots. Es ruckelt, die Rotoren wirbeln Staub auf. Horst Siegert sprintet los. Wieselflink hechtet der Notarzt über einen drei Meter hohen Gitterzaun, den 20 Kilo schweren und 35.000 Mark teuren Notfallkoffer mit Elektroschockgerät, Herzschrittmacher, EKG und Blutdruckmesser im Schlepptau. Später wird Siegert den Koffer als Alleskönner, als „eierlegende Wollmilchsau“ loben. Doch dafür ist jetzt keine Zeit. Die Polizei wartet schon, um den Doktor zum Patienten zu bringen. Mit Blaulicht, Horn und knapp 100 Sachen rast der Einsatzwagen durch die engen Gassen der Neustadt, Autos sprühen wie Funken zur Seite. Knapp zehn Minuten nach der Meldung erreicht Siegert das Haus in der Schleiermacherstraße.

Manchmal müssen sie sich durch ein Schiebedach zwängen, manchmal brechen Patienten in winzigen Luken hinter einer Waschmaschine zusammen. Und auch diese Wohnung ist klein. „Können Sie mich hören?“, „Welche Medikamente nimmt sie?“ Siegerts Stimme ist ruhig. Eine vielleicht 70-jährige Dame leidet schon seit Stunden unter akuter Atemnot, ihre Augen sind zu kleinen Schlitzen geschmolzen. Eine Ärztin hat sich schon um die Erstversorgung gekümmert – bis sie nicht mehr weiter wusste.

Siegert kniet samt Assistenten Klingel auf dem Bett und baut einen Kissenberg, um die Patientin zu stützen. Dann spritzt er ein Asthma-Medikament und Cortison. Zunächst ist die Dame nicht ansprechbar. Als sie ein paar Minuten später auf einer Trage nach draußen gebracht wird, schaut ihr Mann traurig wie ein ausgesetzter Hund aus dem Fenster hinterher. „Wie gesagt: Sterben gehört auch zum Leben“, meint ein Polizist. Aber diesmal dürfte die Dame durchkommen. Auf der Straße geht's mit dem Rettungswagen zum Rotkreuz-Krankenhaus.

Endlich Ruhe. Zu Fuß marschiert das Team zum Leibnitzplatz. Christoph 6 wartet schon. Im Kopf hat Siegert für alle Fälle eine interne Checkliste mit Stufen von eins bis sieben im Kopf: „Ihr Sauerstoff war gut, der Blutdruck war gut: das war in etwa Stufe vier. Das heißt: Akute Lebensgefahr nicht auszuschließen. Stufe sieben heißt: klinisch tot.“

Also ein Routine-Einsatz. „Aber auch davor habe ich großen Respekt“, sagt Siegert. Ein großer Teil der rund 1.200 Bremer Einsätze im Jahr sind Asthma- oder Herzanfälle, etwa 15 Prozent schwere Verkehrsunfälle.

Oft ist der Tod unausweichlich. Angefahrene Kinder, Motorradfahrer mit Rückenmarksverletzungen, zerfetzte Körperteile – vieles stecken sie weg. Für die Piloten der ADAC-Hubschrauber gibt es seit einem Jahr immerhin ein psychologisches Netzwerk, um das Gesehene zu bewältigen. Vieles fängt das Team auf, einiges zu Hause der Partner. „Gefühle darf man ruhig zulassen“, sagt Pilot Engler. „Aber auch dann ist der Teppich manchmal einfach voll.“

Zum Beispiel der Einsatz beim ICE-Unglück in Eschede. Über 100 Tote, 30 Helis flogen zum Trümmerhaufen. „Bis zur Landung wussten wir nicht, was überhaupt passiert war“, erzählt Engler. „Dann kamen wir als vierter Hubschrauber an.“ Auch Assistent Klingel hat den heißen Tag im Juni 1998 nicht vergessen: „Es sah aus wie nach einem Bombenangriff: Der Zug war zerknittert wie eine Ziehharmonika, Schuhe und Bücher lagen auf der Wiese – es war schrecklich.“

Es wird Abend, Christoph 6 war an diesem Tag zwei mal unterwegs. Allein der kurze Einsatz in der Neustadt hat rund 1.000 Mark gekostet, rechnet Engler vor. Dabei war der Hubschrauber gerade mal sieben, acht Minuten in der Luft. „Ob es sich gelohnt hat, muss letztlich die Gesellschaft oder die Politik entscheiden“, meint Siegert. „Ich sage: Ja, das wollen wir uns leisten. Es hat sich sehr gelohnt.“

Kai Schöneberg