Am Ende die Welt

Berlin-Beta-Filmfest, die Dritte: „Requiem for a Dream“ von Darren Aronofsky und Mike Figgis’ Meisterwerk „Time Code“

von ANDREAS BUSCHE

In der aktuellen Spex ereifert sich Vincent Gallo gewaltig über die Annäherung des amerikanischen Independent-Kinos an Hollywood. Tarantino, Korine, Buscemi und so weiter. Die wären im Mudd Club, dem New Yorker East-Village-Exil der paranoid-hyperkreativen „New Urban Bohemians“, nicht mal am Türsteher vorbeigekommen. Dabei ist es noch viel schlimmer: Hollywood und Independent-Kino haben sich längst gegenseitig durchdrungen und profitieren voneinander.

Im letzten Jahr feierte Hollywood mit „Requiem for a Dream“ und „Time Code“ wieder zwei dieser Offshots aus der Schnittmenge von Kalkulation und Innovation. Ellen Burstyn erhielt für ihre Rolle in Darren Aronofskys „Requiem for a Dream“ sogar eine Oscar-Nominierung. Schlechte Zeiten für Gallo. Die so genannten Innovationen in Hollywood kommen heute nicht zufällig aus der DV-Kamera. Einhergehend mit der schnellen, billigen Produktionsweise, ist eine neue Liebe zur Improvisation entbrannt – und damit immer auch ein Herd einiger schwieriger Extravaganzen, denen sich Mike Figgis in seinem Filmexperiment, genauer gesagt: dem ersten Hollywood-Experimentalfilm, „Time Code“, gestellt hat.

Die Welt in „Time Code“ umfasst gerade mal einige Straßenblocks und ist durchlässig wie eine Filmkulisse. Alles ist durchlässig: die Beziehungen, die Emotionen, die Tragödien, der Tod. Hollywood als großer Durchlauferhitzer der Menschen und ihrer absurden Hoffnungen und Träume. Da befällt den Regiseur Alex Green schon mal ganz unvermittelt ein hysterischer Lachanfall, wenn die europäische Künstlerin Ana im Konferenzraum von ihrem neuen Projekt erzählt, einem Hollywood-Film, der die großen europäischen Kunstavantgarden vereinen soll: Bauhaus, Russischer Formalismus, die Situationisten, Piscator, Borges und Eisler. Ein Meisterwerk, wie es Figgis mit „Time Code“ gedreht hat: keine Montage, keine Cuts, nur vier kontinuierliche Shots, auf vier Bildschimen 93 Minuten lang synchron erzählt.

Ein typisch Altman’sches Figurenkarussell wird in „Time Code“ in Gang gesetzt und aus seiner unmittelbarern chronologischen Verfasstheit gerissen; nur wenn sich ihre Wege in den verschiedenen Screen-Fenstern kreuzen, verweist Figgis auf den zeitlichen Bezugsrahmen. Derweil spielen sich seine Figuren in ihrer Selbstbezüglichkeit an den Rande des Karikaturistischen, was Figgis in letzter Konsequenz zu einer profunden Reflexion über hilflose Emanzipationsversuche innerhalb eines starren Systems nutzt. Die Conditio humana beginnt in „Time Code“ langsam zu kollabieren.

In Aronofskys „Pi“-Nachfolger „Requiem for a Dream“ sind die letzten menschlichen Reserven bereits zu Beginn aufgezehrt. Jared Leto klaut seiner Mutter den Fernseher, um ihn im Pfandhaus gegen etwas Drogengeld einzutauschen. Ihr kurzer Dialog findet durch die Toilettentür statt. Wir haben es hier mit dem Gegenstück zu „Another Day in Paradise“ zu tun: der Schilderung von vier Drogenhöllen, der Suche nach Halt und einigen panischen Ausbruchsversuchen, die geradewegs ins Nichts führen. Am Ende fällt Leto von einem sonnenüberfluteten Steg am Meer direkt in einen schwarzen Abgrund. Auch in „Requiem for a Dream“ spielt die DV-Handkamera eine tragende Rolle, leider findet Aronofsky nicht immer das Maß und lässt sie mitunter auftrumpfen wie einen Method Actor. Das kommt psychotisch und beängstigend in den elliptischen Drogensequenzen, hätte aber weniger Guy-Ritchie-Pep vertragen können, weil die vier Protagonisten zu den klaustrophobischen Symphonien des Kronos Quartett den Karren bedrückend gleichmütig in den Dreck fahren. Viel Liebe steckt in Aronofskys Bildern, dabei wenig heuchlerisches Mitleid.

Hubert Selby, der die Romanvorlage zu „Requiem for a Dream“ schrieb, soll bei der Premiere des Films zu Tränen gerührt gewesen sein. Tatsächlich gehört die letzte halbe Stunde in ihrer pathologischen Kaputtheit zum Deprimierendsten, was man in den letzten zwanzig Jahren aus Hollywood zu sehen gekriegt hat. Die Erinnerungen an bessere Tage verschwimmen am Ende im ewigen Delirium.

„Time Code“: 1. 9. Babylon Mitte, 19.30 Uhr; 2. 9. Hackesche Höfe, 17.45 Uhr; 4. 9. Blow Up, 18 Uhr; „Requiem for a Dream“: 1. 9. Hackesche Höfe, 22.45 Uhr; 2. 9. Babylon Mitte, 22.15 Uhr