Sabbel-Krabbel-Brabbelei

Der erste Schultag: Wenn die Familie sich einen Reim auf ihre ABC-Schützen macht

Dass die Kinderverherrlichung zunimmt, je weniger Kinder vorhanden sind, ist verständlich

Zugegeben, man riecht schon ein bisschen nach „Alter Sack“, je häufiger man auf Gegenwartsphänomene mit dem Satz reagiert: Das hätt’s früher nicht gegeben! Andererseits leben wir in einem freien Land. Aber ganz so frei nun auch wieder nicht. Nehmen wir beispielsweise die allgemeine Schulpflicht. Das Leben als Schülerin oder Schüler hat einen Anfang, den ersten Schultag, den allerersten. An diesem Tag werden unsere Kleinen zu so genannten Abc-Schützen ernannt.

Früher ging das Initiationsritual so: Nun beginne der Ernst des Lebens, hieß es, und als Trost kriegte man eine Zuckertüte mit drei Weingummis und einer Lakritzschnecke drin in die Hand gedrückt, marschierte los, maximal ein Pflichtfoto vor dem Eingang zur Zuchtanstalt, dann rein, Ruhe! Hefte raus, Klassenarbeit . . . Das war’s. Damit hatte es sich. Und heute?

Heute kommt die verfügbare Verwandtschaft komplett und extra für das Ereignis angereist, trägt Anzug oder ein frisches Sommerkleid und bringt die Aula zum Bersten, wo herzliche Willkommensreden gehalten werden. In der Zuckertüte steckt mindestens ein Gameboy Color. Hinterher geht die Sippschaft schick essen. Vielleicht haben die Eltern aber auch ein Büffet für zu Hause bestellt. Auf alle Fälle wird ein Festtag gefeiert.

Dass die Kinderverherrlichung zunimmt, je weniger Kinder dafür zur Verfügung stehen, ist verständlich. Ein ganz normaler Vorgang von Angebot und Nachfrage beziehungsweise Wertsteigerung eines knapper werdenden Guts. Aber nun hat sich eine Idee anscheinend durchgesetzt, die in unser aller Alltag eingreift, gar den öffentlichen Frieden bedrohen könnte: Man schlägt am fraglichen Einschulungstag die Zeitung auf und entdeckt zwei Seiten voll mit Glückwünschanzeigen für die Erstklässler. Dabei können die Bälger doch noch gar nicht lesen! „Guten Morgen, Pascal! Nun ist Schluss mit Bambule, / ab heute geht es zur Schule!“, heißt es da oder „Guten Morgen, Maureen-Saskia! Der Wecker klingelt / was soll das bloß? / Aufstehen, heute geht die Schule los!“

Oma Heidi und Opa Jürgen haben ebenfalls gereimt: „Lukas ist einer, der viel fragt, / drum ist jetzt Schule angesagt“, ein Zweizeiler, den auch die Eltern oder Großeltern von Dana und Romy-Viktoria, von Marvin und Merle-Sophie, von Laura-Jane und Jessica ausgesucht haben.

Überhaupt der Reimzwang. Als ob Karneval wäre: „Liebe Lehrer, ab heute braucht ihr nicht mehr verzagen / Ihr habt ja nun den Dennis / den könnt ihr alles fragen.“ Während sich nebenbei ein erster Streitpunkt herauskristallisiert, nämlich wer denn nun in der Schule die Fragen stellt, fällt der Blick auf das Porträt eines Jungen, der mit „Guten Morgen, Mäusekind“ verbal liebkost wird. Ihm wird ein differenzierteres Bild vermittelt: „Auch wenn die Phase ‚Ich habe kein Bock auf Schule‘ kommen wird, sind wir wahnsinnig stolz auf Dich.“ Mal sehen, was „Oma, Mama, Papa, Chris und Alex“ sagen, wenn die Phase dreizehn Jahre dauert.

Andere Kinder müssen damit leben, dass ihre intimen Vorlieben nun stadtbekannt sind. Alexander zum Beispiel: „Käsekuchen magst du sehr, / Fischbrötchen noch viel mehr . . .? / Ich denke, Dir wird die Schule schmecken, / denn es gibt viel Neues zu entdecken!“ Viel Neues wie auf jedem Käsefischbrötchen wahrscheinlich.

Joel dagegen erfährt detailliert sein bisheriges Curriculum Vitae: „Sabbel-Krabbel-Brabbelei / sind nun lange schon vorbei. / Krixel-Kraxel-Krakelei / soll nun werden Schreiberei“.

Wir damals – kurze Hose, Holzgewehr – wurden Gott sei Dank nicht mit solchen Versen noch mit dieser forcierten Fröhlichkeit belästigt. Wir hatten unsere Ruhe. Uns drohte auch kein Unterricht, der uns „Multimediakompetenz“ als „Schlüsselqualifikation“ einbimsen sollte, um uns „fit“ für die „Wissensgesellschaft“ und das global notwendige „lebenslange Lernen“ zu machen. Dafür konnten wir herrlich unnützes Zeugs wie Latein und Griechisch lernen.

Den Kindern heute muss man trotzdem alles Gute wünschen und, falls sie mal Gedichte schreiben, mehr Rhythmusgefühl. Sie können ja nichts dafür. Und werden eventuell sogar später, wenn sie lesen können und das hier lesen, dankbar dafür sein, dass es auch zu ihrer Zeit besonnene Erwachsene gegeben hat, die wachsam und in der gebotenen destruktiven Strenge das kritisierten, was ihre Eltern ihnen aus lauterster Liebe angetan haben. DIETRICH ZUR NEDDEN