Behinderte loben Gesetzentwurf

Sozialministerium legt Entwurf des neuen Gleichstellungsgesetzes für Behinderte vor. Behörden, Busse und Bahnen müssen nach und nach rollstuhlgerecht werden. Verbandsklage nach US-amerikanischem Vorbild wird möglich

von HEIDE PLATEN

Selten ist ein Gesetzentwurf so vollmundig gefeiert worden: Paradigmenwechsel, Quantensprung, Meilenstein, kurz: ein „denkwürdiger Tag“. Staatssekretärin Ulrike Mascher vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung stellte gestern in Berlin zusammen mit dem Forum behinderter Juristen und Juristinnen die Vorlage für das Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen vor.

Das über 100 Seiten dicke Papier mit 44 Artikeln soll im Herbst im Kabinett beraten werden. Es verpflichtet Behörden und den öffentlichen Personennahverkehr zur sukzessiven Umstellung und behindertengerechten Umrüstung ihrer Einrichtungen.

Für Taubstumme muß künftig in Behörden die Möglichkeit zur Kommunikation in der Gebärdensprache angeboten werden, Blinde sollen akustisch oder in Brailleschrift informiert, Internet-Informationen für beide Gruppen zugänglich gemacht werden.

Im öffentlichen Raum sollen Barrieren wie Treppenstufen, Einstiege in Busse und Bahnen und behindertenfeindliche Stadtmöblierungen um- und abgebaut werden. Das Entscheidende am neuen Gesetzentwurf: Den Interessenverbänden der Behinderten wird nach US-amerikanischem Vorbild die Möglichkeit der Verbandsklage eingeräumt. In der Praxis heißt dies, ein Behindertenverband könnte beispielsweise einklagen, dass in einer bestimmten Schule rollstuhlgerechte Toiletten und Rampen eingebaut werden.

Durch den neuen Gesetzentwurf werden außerdem etliche veraltete Bestimmungen in Bundesgesetzen, die die Rechte von Behinderten einschränken, gestrichen sowie Bauordnungen und das Verkehrsrecht behindertengerecht modernisiert.

Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Karl Herman Haack, berichtete dazu, er habe in der vergangenen Woche mit allen 16 Bundesländern Vereinbarungen getroffen. Diese seien bereit, ihren „Pflichten im föderalen System“ nachzukommen, um dem Gesetz auch auf Länderebene rechtlich verbindliche und einheitliche Geltung zu verschaffen.

Im Bereich der Privatwirtschaft, von Fluggesellschaften bis zu Hotel- und Gaststättengewerbe und Einzelhandelsketten, hat man allerdings das Mittel der „Zielvereinbarungen“ gewählt. Diese sollen von den Behindertenverbänden in eigener Verantwortung direkt ausgehandelt werden. Die Unternehmen seien verpflichtet, diese Gespräche aufzunehmen. Zur Beschleunigung des Prozesses sollen, ebenfalls analog zu den USA, Ranking-Listen aufgestellt werden.

Für das Forum unabhängiger Juristen kommentierte Horst Frehe den Entwurf, den er zusammen mit seinem Kollegen Andreas Jürgens federführend erarbeitet hatte. Nach einem Unfall 1966 habe man ihm als Rollstuhlfahrer nahe gelegt, in einer Behinderteneinrichtung „das Körbeflechten zu lernen“. „Deutlicher“, so Frehe, „geht es nicht, die Spanne des Umdenkens“ sichtbar zu machen. Das Gesetz sei ein wichtiger Schritt von „entmündigender Fürsorge und ausgrenzender Unterbringung“ hin zum „Menschenrecht Mobilität“.

Über die Kosten, die bei der Umsetzung des Entwurfes für den Bund entstehen werden, mochte Behindertenbeauftragter Haack gestern keine Prognosen abgeben. Zahlen seien spekulativ. Für das Land Berlin sei für den öffentlichen Personennahverkehr ein Konzept erstellt worden, das zuerst die viel frequentierten Linien und die Umsteigeknotenpunkte berücksichtige und dann weiterentwickelt werden müsse.

Der Gesetzentwurf soll im Herbst durch das Kabinett und noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden.

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