Trümmerfeld Körper

Alvaro Restrepo und Gekidan Kaitaisha auf Kampnagel  ■ Von Marga Wolff

Die Geburt des Körpers im zeitgenössischen japanischen Theater, sein Verschwinden und die erneute Wiederkehr beleuchtete der Theaterkritiker und künftige Kurator des Laokoon-Festivals Hidenaga Otori in seinem Vortrag. Es sind die versehrten, kranken Körper, die heute die Bühnen bevölkern. Körper mit Aids. Wissenschaftlich bis in ihre genetischen Bausteine durchkatalogisierte Körper, die, physisch und seelisch dekonstruiert, jenseits von Raum und Zeit ihren Weg gehen, einsam und unerbittlich, gesteuert durch die geistige Kraft eines Samurai.

„Theater ist Krieg“, sagt der Regisseur Shimizu Shinjin. Und die zehn Tänzerinnen und Tänzer seiner Gruppe Gekidan Kaitaisha (Theater der Dekonstruktion) vermitteln in Bye-Bye: The New Primitive ein Bild, als hätten sich alle Kriege dieser Welt in ihren Leib eingegraben. Die Körperinszenierungen von Gekidan Kaitaisha aus Tokio, dazu die Uraufführung von Alvaro Restrepos traumschöner Bilderwelt Tetralogia – Una Vision de Colombia, machten am Wochenende den verpatzten Auftakt von Laokoon wieder wett, boten sinnfällige Indizien für Gordana Vnuks anvisierte programmatische Perspektiven auf Kampnagel.

Die Stille im Raum ist beklemmend. Regungslos steht da ein Mann mit verbundenen Augen, die Hände in Schellen gefesselt. Sein verhinderter Körper atmet in der Dunkelheit, scheint die Vibrationen aufzunehmen, die eine Frau in ihren zuckenden Bewegungen aussendet. Kurzzeitig geht sie auf allen vieren, bewegt sich instinkthaft und geschmeidig wie eine Katze. Im Stand ruckelt und zuckt sie, als sei ihr Körper aus 1000 Teilen neu zusammengesetzt, die sich wohl niemals wirklich finden werden.

Ebenso verschlossen bleibt ihr der Weg zu dem Mann. Gespens-tisch langsam bewegen sich die Protagonisten. Die Gesichter sind leer und scheinen doch alles Wissen um Schmerz und Leid gespeichert zu haben. Mitunter erinnern die sich nach innen verdrehenden Glieder an den Butoh-Tanz. Doch näher ist die vor 15 Jahren gegründete Gruppe Gekidan Kaitaisha den choreografischen Mitteln des westlichen zeitgenössischen Tanzes, die hier sparsam und doch vielfältig ausgelotet werden.

Ohrenbetäubender Lärm überfällt die Totenstille. Dann flimmern Bilder von Soldaten, Flugzeugen und detonierenden Bomben. Kriegsgott Mars, dargestellt von einer Frau, zieht mit gefiedertem Helm die Runde. Selbst harte Schläge, die ein blutender Krieger ihr auf den aschgrauen Rücken verpasst, lassen sie unbeirrt weitergehen. Weder Opfer noch Täter gibt es in Shimizu Shinjins allegorischer Weltsicht zu beklagen, die sich allein in den hoch sensibilisierten Körpern seiner Darsteller offenbart. Körper, die angespannt zitternd im harten Licht einem Trümmerfeld gleichen und sogleich wieder heroisch stark und anrührend verletzlich erscheinen.

Die Verletzlichkeit der Körper ist es auch, aus der Alvaro Restrepo die Kraft für seine Bilder schöpft. Doch will er die Wunden heilen, die Gekidan Kaitaisha absichtsvoll aufreißt. Das Publikum hielt schier den Atem an beim ersten Blick auf eine zauberhafte Bühnenlandschaft, in die der Choreograf seine mythischen Visionen bettet. Sand zeichnet ein Labyrinth auf dunkler Erde. Von der Decke fällt Licht wie ein Wassertropfen, dessen Schattenringe in regelmäßigem Takt aus der Mitte zu den Rändern fliehen.

Klänge und Gesänge füllen den Raum; eine Stimme erzählt vom Ursprung der Welt aus dem Wasser. Und die Tänzerin Marie France Delieuvin besteigt ein mit Glasfläschchen bestücktes, blau schimmerndes Boot, legt eine kristallene Kugel in ihren Schoß. Seelenlandschaften entwirft Restrepo hier, mit Hilfe des Lichts von Sergio Pessanha. Wie eine Raubkatze durchstreift der Tänzer Jhair Camvindo dieses Land. Vom Jäger wird er zum Krieger und schließlich zum Gejagten. Einen roten Stempel drückt er sich auf die versklavte Brust und wird eins mit der Erde, in der sein blutendes Herz pulsiert.

„Stabat Mater“ – Mutter, Hure, Heilige. Den Visionen der katholischen Kirche begegnet die Schauspielerin Rosario Jaramillo hier in Gestalt einer Voodoo-Hexe. Rot verhüllt reißt sie sich den Latz vom Kleid. Licht scheint auf weiße Brüste. Mehr noch als an die Aussöhnung der Kulturen rührt Restrepo an etwas tief Menschliches. Er selbst tanzt ganz pur im letzten Akt seines Solo-Vierteilers mit einem riesigen Strohteller. Von Bewegung erzählt er hier, von Zukunft.

Weitere Aufführung: heute, Montag, 21 Uhr, Kamkpnagel (k2)