Realitätsverschiebung

Der Berlin-Beta-Kongress im Jahr 1 nach der Krise: Die hochfliegenden Pläne von früher sind verschwunden, doch die, um die es dann doch noch geht, haben Hand und Fuß

Als es losging mit Berlin Beta, dem Festival rund um die digitalen Medien, vor vier Jahren, war alles noch total abgefahren. Der Neue Markt kannte keine Grenzen, alles schien möglich, und die Zukunft war mindestens das Paradies. So gastierte man mit seinem aus dem Boden gestampften Kongress mutig im verschlafenen Berlin, das noch weit entfernt war von so etwas wie einem Medienstandort, und dort im kultigen Haus des Lehrers, einem wunderbaren Plattenbau im retrofuturistischen Stil direkt am Alex. Die ganze Veranstaltung war natürlich eine einzige Party. New Economy war noch supersexy, und wer das bis dahin noch nicht so recht hatte einsehen wollen, wurde spätestens durch Berlin Beta eines Besseren belehrt. Tagsüber wurde auf den Panels ein wenig heiße Luft produziert, und abends konnte man sich als Teil der Trendavantgarde fühlen, in der Club-Area socialisen, neue Pläne für Berlin aushecken, schicke Old-School-Computergames spielen und im Foyer den unglaublichen DJ DSL beim Auflegen beobachten.

So funky ist Berlin Beta nun nicht mehr. Im Jahr 1 nach der Krise lauten die entscheidenden Stichworte des Neuen Markts „Konvergenz“ und „Content“, und so kommt Berlin Beta nun nicht mehr als Spaßkongress daher, sondern man tut alles dafür, Seriosität zu vermitteln. Schon die Wahl der neuen Örtlichkeit deutet auf die neue Unaufgeregtheit hin. In der edelsanierten Kulturbrauerei ist man gelandet, im gar nicht mehr so hippen Prenzlauer Berg. Man nimmt dort Platz in nagelneuen Plüschsesseln, und die ganze Organisation hat überhaupt nichts Wuseliges mehr, alles klappt perfekt.

Die Überschrift des diesjährigen Berlin-Beta-Kongresses lautet „Realitätsverschiebung“, wobei die Betonung erst mal auf Realität an sich liegt. Denn um diese ging es früher ja eher nicht, vielmehr hat man sich eben abgefahrene Visionen ausgedacht und wild geträumt. Doch mit der nackten Realität in der Form eines kollabierten Neuen Markts ist nun auch das Zulassen von Bedenken und Abwarten eingekehrt. Es geht nicht mehr nur um die Zukunft, sondern verstärkt um das Jetzt, und da sieht es bekanntlich in allem rund ums Internet nicht ganz so gut aus. Das wurde etwa deutlich im Panel zu „Streaming und Mainstream“, in dem ganz nüchtern über Sinn und Unsinn aus den Tiefen des Netzes debattiert wurde. Da wurde dann Patrick Wagner vom Berliner Independent-Label Kitty-Yo mit seiner Skepsis gegenüber Schnickschnack aus dem Netz nicht bloß als Punkrocker belächelt, sondern alle gingen d’accord mit ihm. Es schien so, als ob das, was man sich schon immer irgendwie dachte, aber nie auszusprechen wagte, plötzlich Konsens wäre. Etwa dass das Streaming von Club-Events ein ausgemachter Schwachsinn ist, weil sich de facto kein Mensch in seinem Wohnzimmer dafür interessiert, wie spannend oder auch nicht das Leben da ist, wo man gerade nicht ist. Solche Dinge wurden plötzlich ausgesprochen, ganz sachlich. Das war wohl das, was mit Realitätsverschiebung gemeint war.

Überhaupt gestalteten sich erstaunlich viele Panels enorm produktiv. So gab es zwei über die neuesten Entwicklungen auf dem Sektor der digitalen Filmproduktion, die ziemlich gut Tendenzen und einen sich andeutenden Paradigmenwechsel in der Filmproduktion andeuteten. Seit den viel diskutieren Dogma-Filmen gibt es eine wahre Schwemme von digitalen Produktionen, teilweise erfrischende, schnell und billig heruntergekurbelte Filme, die auf den Kinomarkt drängen. Die Vorzüge und Nachteile dieser relativ jungen Technik wurden diskutiert und warum die Kinos sich noch immer nicht so recht dafür öffnen wollen. Unter dem Stichwort der Konvergenz hat Berlin Beta dahin gehend gleich selbst den nächsten Schritt unternommen. Auf dem Filmfestival, das auch dieses Jahr wieder ausgezeichnet ist, werden in einem Sonderprogramm DV-Filme gezeigt und wird erstmals der Digital Fiction Award verliehen. Man nimmt die Sache selbst in die Hand und redet sich nicht mehr bloß den Mund fusselig. Zwar hat man bei Berlin Beta nicht mehr so viele Pläne wie früher, doch die, um die es dann doch noch geht, haben Hand und Fuß. Und mehr kann man von einem derartigen Kongress auch gar nicht verlangen. ANDREAS HARTMANN