Kassandra als Kassengift

Vor dem heutigen Wahrheit-Geburtstag musste das „Orakel von Schöneberg“ öffentlich Prognosen widerrufen

Wenn ein besonderes Datum bevorsteht, sollte man reinen Tisch machen und begangene Sünden bereuen. Heute hat die Wahrheit Geburtstag. Zum ersten Mal erschien die Seite vor genau zehn Jahren am 3. September 1991. Allerdings gibt es heute kein Geburtstagsfest. Wir feiern wie die Queen, zu einem späteren Zeitpunkt, dann, wenn schlechtes Wetter ist: Das große Fest „10 Jahre Wahrheit – 10 Jahre ©Tom – 10 Jahre Sotscheck“ wird am 24. November in Berlin stattfinden. Doch zurück zu den Sünden. Am Samstag musste der Redakteur dieser feinen, kleinen Seite im Vorfeld der Feierlichkeiten falsche Prognosen der vergangenen Jahre öffentlich widerrufen.

Seit mehreren Jahren sagt der hellseherische Wahrheit-Redakteur Michael Ringel vieles vorher, so hat er unter anderem gewahrgesagt, dass bis zum 8. April 1998 der Berliner Tagesspiegel an den Zeitschriftenkiosk Gruner & Jahr verkauft worden sei und das Stadtmagazin Zitty bis zum Herbst 1999 eingestellt werde. Todsicher! Im Falle einer Fehlprognose sei er bereit, sich am Berliner Wittenbergplatz auf eine Apfelsinenkiste zu stellen und per Megafon öffentlich zu widerrufen. Ein Vertrag wurde aufgesetzt, vom Orakel und Zeugen unterschrieben, notariell beglaubigt und weggeschlossen.

Am vergangenen Samstag wurde das Dokument wieder hervorgeholt, und unter dem triumphierendem Gelächter der Vollstreckerin Carola Rönneburg wurde der Delinquent, herausgeputzt wie zur Konfirmation, an den Ort seiner Schmach gezerrt. Wegen der Befürchtung, das Orakel von Schöneberg – immerhin Zweitplatzierter mehrerer Bauchwettbewerbe – könne, noch bevor es widerrufen habe, abstürzen und sich den Hals brechen, zeigte sich Rönneburg bereit, auf die Apfelsinenkiste als Pranger zu verzichten. Stattdessen wurde das Orakel auf eine Parkbank gestellt, mit einem Plastikmegafon Marke Eigenbau versehen, und die öffentliche Demütigung hätte beginnen können. Aber öffentliche Demütigungen ohne Publikum machen keinen Spaß, und die Wahrheit-Kassandra erwies sich als wahres Kassengift. Sämtliche Versuche der Helfershelfer, johlenden Mob zwangszurekrutieren oder mit Gratissekt zu ködern, schlugen fehl, ja verkehrten sich ins Gegenteil, und bald schien der Wittenbergplatz mitten am Samstagnachmittag einer Wüste gleich – öd und leer . . . Aber widerrufen werden musste, und so achtete man der fehlenden Zuschauer nicht weiter, und das Orakel widerrief sich die Seele aus dem Leib, bis doch ein paar Passanten anhielten.

Die erstaunten Mäuler hatten sie zu Fragezeichen verzogen und wurden nicht müde, einander Fragen zu stellen: „Ist das nicht irgendwie merkwürdig?“ –„Was machen die da? Was soll das?!“ Schnell erkannten die Vollstreckergehilfen eine Marktlücke. Und schwärmten aus, die Passanten zu binden: „Was Sie dort auf der Parkbank sehen, ist ein Orakel. Heute weissagt es gratis. Kostet nichts! Haben Sie Fragen?“ Endlich durchforschten ein paar Passanten ihr Hirn. „Wann machen die Geschäfte hier zu?“, rief ein ganz Nassforscher. „Wann immer Sie wollen!“, antwortete das Orakel. „Wie lange muss mein Mann noch hier bleiben?“, fragte eine Dame, deren Gatte im Bundestag tätig ist – gerade von Bonn zugezogen. „Das kann sich hinziehen“, krähte das Orakel. „Was’n dette für’n Vogel?“, fragte ein Herr, der seine Wohnstätte auf der gegenüberliegenden Bank hatte und das Orakel verwundert ansah. „Nicht Vogel, Frosch“, dozierte das Orakel mit Hinweis auf den Wahrheit-Frosch, der die Veranstaltung beschirmte. Versöhnlich stieg das Orakel dann von der Parkbank und drückte dem Frager eine Flasche Sekt in die Hand. Dem Frager verschlug es allerdings nicht die Sprache: „Du biss wohl in Leipzig jeboren, wa???“ Da befahl das Orakel allen, jetzt nach Hause zu gehen.

Nachtrag: Alles wurde von einem tragischen Ereignis überschattet! Denn einer der Helfershelfer – er will namentlich nicht genannt werden, weshalb wir ihn hier Dieter Grönling nennen – hatte sich zu Hause ausgesperrt. Schlüssel in der Wohnung vergessen und dann die Tür zugezogen. Ob Herr Grönling wieder in seine Wohnung hineinkam, blieb die einzig offene Frage dieses schönen Samstagnachmittags. CORINNA STEGEMANN