Aktien prüfen statt empfehlen

Finanzanalytiker nach dem Börsenboom: Mangelnde Erfahrung, Orientierungam Mainstream und Verquickung von Interessen haben ihren Ruf ruiniert

Viele hinterfragen nicht, sondernmutieren zu verlängerten Sprachrohrender Gesellschaften Wir müssen wieder unabhängigerwerden und eineethisch korrekteArbeit leisten

„Persona non grata“: Dies wäre heute die allgemeine Definition von Finanzanalytikern, gestützt auf die laufenden Diskussionen in den einschlägigen Medien. Das Ansehen dieser Berufssparte hat sich in den letzten 18 Monaten stark verändert. Vor anderthalb Jahren wurden Analytiker von denselben Investoren und von denselben Medien, die heute die Praxis dieser Berufssparte verurteilen, als wahre Halbgötter hochgejubelt. Jeder Investor hegte und pflegte den heißen Draht zur Gemeinde der Analytiker, um als Erster in den Genuss von heißen „Börsentipps“ zu kommen. Wie ist eine derartige Kehrtwende überhaupt möglich?

Müsste man das Aufgabengebiet des Analytikers definieren, würde die Beschreibung folgendermaßen lauten: „Seine Aufgabe im weitesten Sinne ist es, den Wert von finanziellen Vermögenswerten zu ermitteln und das Verhältnis zwischen Risiko und Rendite einer Investition aufzuzeigen.“ Wäre dies die Realität, hätte die Financial Times kürzlich wohl kaum „Shoot the analysts“ getitelt.

Das Umfeld und das Aufgabengebiet des Analytikers hat sich in den letzten Jahren massiv verändert, leider zulasten der Performance. Eines der Hauptübel in der Branche liegt darin, dass Analytiker ihre Tätigkeit als Sprungbrett benutzen. In vielen internationalen Finanzinstituten wird dies stark gefördert, um in der Hierarchie wichtige Posten besetzen zu können. Kaum hat ein Analytiker die nötigen Kenntnisse über eine Gesellschaft oder einen Sektor erlangt, entschließt er sich, eine neue Herausforderung anzunehmen. Gemäß einer jährlich publizierten Studie von Reuters/Tempest vom Februar 2001 sind rund 65 Prozent der Analytiker, die an der Umfrage teilnahmen, weniger als drei Jahre beim selben Arbeitgeber angestellt. Ihr Alter liegt in der Regel zwischen 29 und 31 Jahren. Anderseits zeigt die gleiche Untersuchung, dass im Durchschnitt „lediglich“ 50 Prozent der Analytiker vier Jahre Berufserfahrung aufweisen. Daraus lässt sich Folgendes ableiten: Langjährige Erfahrungen sind innerhalb der Branche praktisch nicht vorhanden, Analytiker sind jung und beweglich. Kurzum: Die Finanzanalyse ist ein Sprungbrett.

Die Folge ist, dass dem Analytiker während seiner kurzen Amtszeit die Motivation fehlt, sich eine Meinung zu bilden, die dem Konsens widersprechen würde. Allgemeines Ziel ist es, die Fehlerquote zu minimieren. Viele Analytiker hinterfragen deshalb auch nicht die Aussagen des Managements der betreuten Unternehmen, sondern mutieren zu verlängerten Sprachrohren der Gesellschaften. Hinzu kommt, dass der Umfang und die Intensität des Nachrichtenflusses von Jahr zu Jahr zunehmen. Der Zeitdruck in Kombination mit den mangelnden Erfahrungen führt oft zu Falschinterpretationen, was wiederum für die Aktienkurse der Gesellschaften und für die Investoren verheerende Folgen haben kann.

Ein grundlegendes Problem ist auch die Tatsache, dass veröffentlichte Finanzanalysen zu Marketinginstrumenten verkommen. Es geht nicht mehr darum, aufzuzeigen, dass eine Gesellschaft unter- oder überbewertet ist. Ziel eines Analytikers ist es, den Kunden mit Wissen zu beeindrucken, was vielfach durch das Abschreiben des Geschäftsberichts erreicht wird. Dem Analytiker kommt vielfach die Rolle eines Kundenberaters oder Verkäufers zu, der die Aufgabe hat, Kaufs- und Verkaufsorders auszulösen. Ein besonders „guter“ Analyst mutiert somit zu einer interessanten Geldmaschine und wird dafür Ende des Jahres mit einem entsprechenden Bonus kompensiert. Im Zentrum steht nicht mehr die Finanzanalyse oder die Aktienempfehlung, sondern die Höhe der Transaktionsvolumen. Die Konsequenzen für die Investoren sind vielfach negativ.

Eine weitere Problematik hängt mit den Kauf- und Verkaufsempfehlungen zusammen, die im Rahmen der Finanzstudien abgegeben werden. Diese Publikationen, die mitunter über 100 Seiten umfassen können, werden in aller Regel auf die Worte „Kaufen“, „Neutral“, „Verkaufen“ reduziert. In Anbetracht der Komplexität der Finanzwelt erweist sich eine solche Zusammenfassung als ein problematisches Unterfangen. Erschwerend hinzu kommt der Leistungsdruck, dem auch die Research-Abteilungen unterliegen. Der Druck, eine überdurchschnittlich gute Rendite zu erzielen, ist grundsätzlich nicht negativ. Beschränkt sich die Erfolgsmessung auf kurze Zeiträume, kann dies negative Folgen haben. Investoren neigen vor diesem Hintergrund vielfach dazu, so genannten Modetrends nachzuspringen. Während der letztjährigen Internet-Hausse verstand beispielsweise am Anfang niemand die Sprache der New Economy. Doch der Trend kam in Gang und zwang auch Portfoliomanager und Analytiker, auf diesen Zug aufzuspringen. Führte damals ein Analytiker keinen „erfolgversprechenden“ Technologietitel auf seiner Empfehlungsliste, wurde ein solches Verhalten als geschäftshindernd verschrien – und sein Bonus wurde kleiner.

Im Weiteren gilt auch, dass Finanzstudien grundsätzlich an ein professionelles Publikum gerichtet sind. Man kann somit auch erwarten, dass diese Publikationen durch die Benutzer kritisch hinterfragt werden. Vielleicht wurde damals diese kritische Sicht – aus Renditeüberlegungen – bewusst verdrängt. Die Folgen kennen wir alle.

Die Diskussion um die Glaubwürdigkeit der Analytiker entstand grundsätzlich aus der Problematik der Interessenkonflikte zwischen Finanzinstituten, ihren Aktivitäten zum Börsengang und den Investoren. Der Konflikt veranlasste die amerikanische Securities Industry Association (SIA), einen „Best Practices Code for Research“ zu veröffentlichen. Auch wenn heute bereits großer Schaden angerichtet wurde und dies einer Fünf-Minuten-vor-zwölf-Aktion gleichkommt, ist dies sicherlich der richtige Ansatz, um der Analytikergemeinde aus der Vertrauenskrise zu helfen. Die Integrität der Finanzanalyse und die vorhandenen Interessenkonflikte müssen zum Schutze des Aktionärs klar aufgezeigt werden. Doch ein Kodex ist noch lange keine bindende Vorschrift. Schwarze Schafe wird es leider immer geben. Diese haben meistens die Neigung, die gesamte Branche in die Schlagzeilen zu bringen.

Doch nicht nur der Interessenkonflikt zwischen den Renditezielen der Finanzinstitute und der Investoren beeinträchtigt die Arbeit der Analytiker. Viele Gesellschaften haben in den letzten Jahren damit begonnen, ihr Management mittels Optionen zu entschädigen. Ein Analyst, der gegenüber einer solchen Gesellschaft aus fundamentalen Gründen negativ eingestellt ist, kann durch eine entsprechende kritische Haltung die Entschädigung des Managements empfindlich treffen. Vor allem bei mittelgroßen und kleineren Gesellschaften stößt eine derartige Haltung kaum auf große Gegenliebe. Die Gesellschaften sollten allerdings die Tatsache akzeptieren, dass die Bewertung eines Unternehmens dem Aktienmarkt unterliegt und nicht nur durch die gesellschaftsspezifischen Fundamentaldaten geprägt wird. Ein „Best Practices Code“ müsste demnach auch von den Gesellschaften akzeptiert werden.

Die Hälfte aller Analytikerhat höchstensvier JahreBerufserfahrung

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in den letzten 18 Monaten sicherlich viele Fehler begangen wurden, die nicht hätten passieren dürfen. Doch niemand ist unfehlbar. Vielleicht wurde den Analysen auch zu viel Gewicht beigemessen, oder man übersah oder verstand die Realität der Finanzanalyse nicht. Vielleicht ließen sich die Analytiker durch die Massenmedien zu schnell als Gurus hochjubeln. Ein Rückfall auf den Boden der Realität wiegt umso schwerer.

Das verlorene Vertrauen wieder zurückzugewinnen, ist meistens ein sehr beschwerlicher und mühsamer Prozess. Ein Verhaltenskodex für Analytiker ist sicherlich der richtige Anfang, jedoch nicht die einzige Maßnahme, die unter den gegebenen Umständen zu treffen wäre.

Der Analytiker sollte in der heutigen komplexen Welt zurück zu seinem ursprünglichen Aufgabenbereich finden und dabei vermehrt auf die Chancen und Risiken einer Finanzinvestition hinweisen und dies in einer objektiven und transparenten Art und Weise vermitteln. Dabei muss nicht die Empfehlung einer Aktie zuoberst auf der Liste stehen, sondern eine pointierte Analyse der Situation der entsprechenden Gesellschaft. Auch die Gesellschaften müssen begreifen, dass Analytiker in einem unabhängigen Umfeld arbeiten. Wir, die betroffenen Analytiker, sollten erneut lernen, eine ethisch korrekte Arbeit zu leisten. MIRKO SANGIORGIO