Die Revolution muss warten

In ganz Europa üben sich die Grünen längst in Globalisierungskritik. Nur die deutsche Partei zeigt sich von der Protestbewegung völlig überrascht

von BETTINA GAUS

Kehren die Grünen auf die Straße zurück? Auf der ersten Sommerakademie der Partei, die jetzt in Berlin stattgefunden hat, sind revolutionäre Töne zu hören. „Leider sind die Parlamente noch nicht richtig aufgewacht, was die parlamentarische Kontrolle der Globalisierung angeht“, sagt eine Abgeordnete öffentlich auf dem Podium. Die Welthandelsorganisation WTO sei nicht demokratisch legitimiert, ihre Politik widerspreche der Idee eines fairen Welthandels. Wie bitte?

Alles halb so wild. Auf Bündnis 90/Die Grünen muss die Revolution wohl noch ein bisschen warten. Die Rednerin heißt Heidi Hautala, sie ist Europaabgeordnete – und sie kommt aus Finnland. „Ihre Position ist im Europaparlament immer die gemäßigte Mitte gewesen“, meint Frieder Otto Wolf amüsiert. Der Berliner, der zum linken Flügel der Partei gehört, war einmal ihr Fraktionskollege. Vor den letzten Wahlen haben die deutschen Grünen ihn aber nicht mehr aufgestellt.

Die Linken haben in den letzten Jahren bei Bündnis 90/Die Grünen an Bedeutung und Einfluss verloren. Wirtschaftsliberale Positionen sind in der Partei seit langem mehrheitsfähig. Kritik an den Instrumenten des Globalisierungsprozesses erscheint vielen als ewig gestrige Position. Gilt das auch heute noch? Spätestens seit den Auseinandersetzungen in Genua ist im grünen Umfeld kaum ein anderes Thema so heiß umstritten wie die Haltung zur globalisierungskritischen Bewegung.

Außenminister Joschka Fischer hat in diesem Zusammenhang vor „überkommener linksradikaler Ideologie“ gewarnt. Hat er damit Positionen wie die von Heidi Hautala gemeint? Die steht mit ihren Ansichten nicht alleine da. Ihr Fraktionskollege Joost Lagendijk aus den Niederlanden fürchtet, dass die Grünen die Verbindungen zu den Globalisierungskritikern verlieren, „obwohl wir doch deren Analysen teilen“. Der französische Umweltminister Yves Cochet wirbt für die Tobin-Steuer, also für die Besteuerung von Devisengeschäften. Der Europaabgeordnete Johannes Voggenhuber aus Österreich sagt, er sei „erschrocken“ über „parteitaktische“ Antworten auf die Anliegen der Globalisierungskritiker: „Die beschreiben unsere Aufgabe, die wir offensichtlich bereits vergessen haben.“

Vergessen oder als unrealistisch erkannt? Unüberhörbar laut schimpft ein älterer Mann während der Kaffeepause darüber, dass hier Positionen offenbar wieder mehrheitsfähig seien, „die wir schon seit zehn Jahren überwunden haben“. Spricht er für die Partei und ihr Milieu – oder spricht er für sich persönlich? Bei kaum einer anderen Partei lassen sich politische und individuelle biografische Entwicklungen so schwer voneinander trennen wie bei den Grünen, deren Anfänge seinerzeit im Aufstand einer Generation gegen die Eltern lagen.

Das schafft Probleme, die bei den Zwischentönen oft noch viel deutlicher werden als bei den Diskussionen über die ganz große Linie. Die Parteivorsitzende Claudia Roth fordert eine „Renaissance der Grundrechte“ auf europäischer Ebene. Wenn Grüne früher die Einhaltung von Grundrechten gefordert haben, dann klang das oft wütend. Damals wollten sie diese Rechte auch für sich selbst einklagen. Heute hört es sich oft so an, als wollten sie die Grundrechte vor allem für andere erkämpfen, die vom Glück weniger begünstigt sind als sie selbst.

Im Alltag spielen solche Fragen allerdings eine untergeordnete Rolle. Als vor Monaten mit der Planung der Sommerakademie begonnen wurde, schien sie wenig Zündstoff zu bergen. Gewiss: Im Zusammenhang mit der Diskussion über das neue Grundsatzprogramm drohen den Meinungsführern der Partei manche Fallstricke. Einige der so genannten Realos fürchten, dass so genannte Regierungslinke zu ihren politischen Wurzeln zurückfinden könnten, um ihre Chancen auf aussichtsreiche Listenplätze für die bevorstehenden Bundestagswahlen zu verbessern.

Über das neue Programm wird jedoch vor allem auf parteiinternen Veranstaltungen diskutiert werden. Eine öffentliche Sommerakademie schien sich also zunächst recht risikolos planen zu lassen. Aber die Partei denkt und die Geschichte lenkt. Grundsatzprogramm, Globalisierung, Zuwanderung: Der Diskussionsprozess innerhalb der Partei, der sich seit Jahren sorgfältig um den Eindruck von flügelübergreifender Harmonie bemüht hat, ist plötzlich wieder spannend geworden.

Bislang kommen kritische Stimmen überwiegend von ausländischen Verbündeten. Das lässt sich in allen Parteien relativ leicht ertragen, und so nehmens denn die meisten zunächst auch relativ gelassen. Das ändert sich, als abends Daniel Cohn-Bendit das Wort ergreift. Gewiss: Auch er sitzt heute nicht für die deutschen, sondern für die französischen Grünen im Europaparlament. Aber der Doyen der 68er Bewegung hat eben auch in der Geschichte der deutschen Grünen eine wesentliche Rolle gespielt. Seine Mahnungen erregen die Gemüter. Ob er denn nicht in Würde altern könne, wird Cohn-Bendit gefragt. „Das ist ja hier wie früher“, sagt einer. Ein anderer braust auf: „Dani, mach’ mal halblang. Du baust hier richtig falsche Fronten auf.“

Zur Frontenbildung bedarf es offenbar nicht viel. Cohn-Bendit, der kürzlich mit kritischen Äußerungen zur Haltung seines Freundes Joschka Fischer für Aufsehen gesorgt hatte, will nicht, dass die Grünen die Bewegung der Globalisierungskritiker „einfangen“. Aber: „Wir müssen eine Empathie zeigen, ohne opportunistisch zu sein.“ Außerdem habe die Bewegung es immerhin geschafft, „was bisher keine Regierung fertig gebracht hat: nämlich die Agenda durcheinander zu bringen.“ Das sei ein „Sieg“.

Ein Sieg für wen? Manche derjenigen, die es bei den Grünen in den letzten Jahren in Amt und Würden gebracht haben, scheinen sich persönlich angegriffen zu fühlen. Der Parteivorsitzende Fritz Kuhn betont, die Grünen seien schließlich eine Partei und keine Bewegung. Und dann sagt er einen Satz, der ganz offensichtlich einen Nerv trifft: „Ich möchte nur eines nicht: dass die Arbeit, die die Grünen gemacht haben, einfach so weggewischt wird.“

Eine Frau im Saal klatscht heftig. Uschi Eid kann ihren Zorn über die Forderung nach größerem Verständnis für Kritiker der Globalisierung kaum noch im Zaume halten: „Ich finde das wirklich absurd. Wir werfen uns denen an den Hals“, sagt die Staatssekretärin im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit laut. Bedeutet Verständnis für eine Bewegung, die vor allem von der nachfolgenden Generation getragen wird, eine Abwertung der eigenen Lebensleistung? Mit dieser Frage haben sich Ältere schon häufiger auseinander setzen müssen.