juttas neue welt
: Lesen und lesen lassen

Lesen Sie eigentlich noch Zeitung? Ich auch nicht. Wozu auch? Diese Mühe kann man ja anderen überlassen. Sich vorlesen zu lassen ist immer sehr schön. Aber es geht auch unpersönlicher. Natürlich im Internet. Hier wird gelesen, was das Zeug hält. Das Gelesene zusammengefasst und in übersichtliche Textchenhäppchen gepackt. Die Perlentaucher machen das schon seit einiger Zeit – dank ihrem Lesedienst musste ich niemals mehr auch nur eine einzige Feuilletonseite anfassen. Geschweige denn anschauen. Noch geschweiger denn lesen. Und mir somit auch keine eigene Meinung mehr bilden, denn die Perlentaucher schreiben ja, was sie von jenem oder diesem Artikel halten.

So macht das Internet mein Leben leichter. Denn für Komplexitätsreduzierung in dieser schrecklich unüberschaubaren Welt bin ich immer sehr dankbar. Was die Perlentaucher für die Kultur sind, ist die Netzzeitung für die Medienthemen. Im Altpapierkorb landet jeden Morgen eine kommentierte und verlinkte Zusammenfassung der Medienseiten deutscher Zeitungen. Auch hier wird nicht an Kritik gespart, der eine oder andere Autor schon mal niedergemacht, oder es wird nicht ganz uneigennützig darauf verwiesen, was erst heute in der Berliner Zeitung stehe, sei schon vor mindestens zwei Tagen in der Netzzeitung zu lesen gewesen. War zwar nur eine Agenturmeldung, aber egal. Hauptsache drin.

Somit habe ich mit ein paar Klicks locker zwei Wissensgebiete abgedeckt. Aber auch meine unzähligen Special Interests werden von digitalen Presseschauen bedient. Der Zeit-Newsletter hält mich politisch korrekt auf dem Laufenden, meinen historischen Neigungen fröne ich unter www.crispinius.com, meine lange vernachlässigten archäologischen Talente trainiere ich täglich bei www.archaeologie-online.de, und mein heimlich gepflegtes Zoologentum kann ich unter www.zoo-ag.de/zoopresseschauen mit den neuesten Artikeln über Tiere hinter Gittern anreichern. Besonders gern nutze ich den Dienst des Zentralinstituts für seelische Gesundheit in Mannheim: Hier gibt’s nicht lediglich einen Link auf den herausgepickten Artikel, sondern alle aktuellen Veröffentlichungen zum Thema Seele und Gesundheit werden einfach eingescannt. Na, da könnte ich ja fast wieder Zeitung lesen.

Eins allerdings vermisse ich nach wie vor: eine Presseschaupresseschau, also eine Seite, die alle Presseschauseiten in übersichtlicher Art und Weise aufführt, zusammenfasst und kommentiert. So wie diese Kolumne ungefähr. Etwas ausführlicher noch. Das wäre sehr praktisch. Aber vielleicht packt es dieser kleine Text ja in eine der erwähnten Presseschauen rein, dann entstünde dort ein kleiner Text über einen kleinen Text, der sich mit Presseschauen auseinander setzt, die sich wiederum mit vielen kleinen und auch größeren Texten beschäftigen. „Milchmädchendialektik“ würde Christa Wolf vermutlich dazu sagen. Nicht gerade meine Lieblingsschriftstellerin, aber wo sie Recht hat, hat sie Recht. Denn mit den Texten ist es ähnlich wie mit der Milchdose, auf der eine Frau abgebildet ist, die eine Milchdose in der Hand hält, auf der eine Frau abgebildet ist, die eine Milchdose in der Hand hält. Und so weiter. Und so fort. Die ursprüngliche Dose sieht man irgendwann nicht mehr. Ist ja auch nicht so wichtig. Außerdem: Benutzt hier überhaupt noch jemand Milchdosen? JUTTA HEESS

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