Der unverzagte Dietrich

■ Dietrich von Bern war der beliebteste Held des späten Mittelalters – bei den Mediävisten ist er es heute noch: Nachempfunden einer historischen Heldenfigur, mutierte Didi in der italienischen Sagenlandschaft zum Donald Duck unter den Heroen

Er was der nothafften zuflucht, der milde ein gelichiu waage ein trost aller siner mage (...) Er was der rechten trieue ein ast, der zucht ein rechter adamant, sin herze was also gewant.

Hat dieses Lob ein Slam-Poet geschrieben? Jemand, der Probleme mit der Rechtschreibung hat oder nicht blind tippen kann? Nein, es handelt sich eine Stelle aus einem mittelalterlichen Heldengedicht. Dessen Held, „Dietrich von Bern“, wird hier gepriesen.

Entstanden im 13. Jahrhundert, beruht das Gedicht „Dietrichs Flucht“ neben dem Heldenepos „Die Rabenschlacht“ auf einer historischen Figur, dem Ostgotenkönig Theoderich (453-526 n.Chr.). An diesem Wochenende sind diese Gedichte der Gegenstand einer internationalen Tagung des Fachbereichs Sprach- und Literaturwissenschaften der Bremer Universität zusammen mit der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft.

Der echte Theoderich war ein erfolgreicher Kriegsherr. Als das weströmische Reich im Staub der Geschichte versank, versuchten die Ostgoten andauernd, Italien zu erobern. Dann kamen die Hunnen und machten erst mal alles in Europa platt (weswegen auch die Briten die Deutschen im zweiten Weltkrieg „the huns“ nannten). Nachdem der größte Feldherr der Hunnen, Attila (mittelhochdeutsch: Etzel), in gemeinsamer Anstrengung von einem römisch-gotischen Heer geschlagen wurde, gingen die Ostgoten ein Bündnis mit Byzanz ein, dem oströmischen Reich. Zur Besiegelung gab der Ostgotenkönig Thiudimir seinen Sohn Theoderich als Pfand an den Kaiserhof in Konstantinopel. Der bekam als königliche Geisel eine erstklassige Ausbildung, die zu seinem späteren Erfolg als König beitrug.

Die Ostgoten hatten immer Sehnsucht nach Italien, wegen des Reichtums der Städte, der hohen Kultur und – der Strände! Aber in Rom herrschte der brutale Germanenfürst Odoaker, der Bezwinger des Weströmischen Reichs. Er hatte den letzten römischen Kaiser auf einen Hühnerhof in Rente geschickt.

Kaum König, lieferte sich Theoderich mit Odoaker mehrere Schlachten und belagerte ihn schließlich drei Jahre lang vergeblich in Ravenna, der damaligen Hauptstadt Italiens. Selbst der Papst hatte sich dorthin geflüchtet, denn Rom war völlig verwüstet. Da machte Theoderich einen Kompromissvorschlag und versprach, die Macht mit Odoaker zu teilen. Der ging darauf ein und öffnete das Tor zur Stadt. Theoderich eilte zu Odoaker und erschlug ihn sofort. Dann errichtete er auf der italienischen Halbinsel ein stabiles und gewaltiges Reich. Die Wirtschaft gedieh, die Kultur blühte, die Steuern waren niedrig – da wurde der Euro eingeführt!

Nein, schlimmer, Theoderich starb, und da er keinen angemessenen Nachfolger hatte, ging sein Reich nach kurzer Zeit für immer unter.

Der historische Theoderich lebt in der Sagengestalt des Dietrich von Bern fort, doch in einer seltsamen Umkehrung, die den Forschern ein Rätsel ist: Aus dem strahlenden Eroberer Italiens ist in den sentimentalen Epen, die seit dem 6. Jahrhundert entstanden, ein Unglücksrabe geworden: Schon als Kind mag er nicht kämpfen lernen, weil er die Anstrengung und Lebensgefahr unzumutbar findet. Als Exilant trödelt er am Hof des Hunnenkönigs Etzel rum, er erobert sein Königreich mit Mühe zurück und verliert es sofort wieder. Er zaudert, wird verraten, verschleudert seine Siege und findet sich nach jeder missglückten Aktion an Etzels Hof wieder. Im Gegensatz zu Theoderich setzt er tatsächlich auf Schlichtung statt auf Streit und wird deswegen von seinen Gegnern oft aufs Kreuz gelegt.

Im Mittelalter war Dietrich der größte und beliebteste Held überhaupt, weit vor Siegfried und seinen Nibelungen. Erst im 19. Jahrhundert wurde das Nibelungenlied immer populärer und schließlich von den Nazis (Schlagwort: Nibelungentreue) für ihre Propaganda missbraucht. Den Loser Dietrich von Bern ließen sie links liegen.

Seit 1998 gibt Elisabeth Lienert als Professorin an der Universität Bremen Kurse in Mittelhochdeutsch. Nun entstand unter ihrer Leitung im Rahmen des von der DFG gesponserten Projekts „Literatur des Mittelalters“ eine neue Ausgabe der Epen um Dietrich, die auf der Tagung gestern vorgestellt wurde. Mehrere Handschriften des 13. und 14. Jahrhunderts wurden nebeneinander abgedruckt und erleichtern so den Altphilologen die Arbeit.

Wen mag Lienert lieber, Dietrich oder Theoderich? „Dietrich war jedenfalls kein Hau-Drauf!“ sagt sie und lächelt.

Tom Brägelmann