Schüler jeden Alters, vereinigt euch!

Manch heute eingeschulter Erstklässler könnte sich bald mit älteren Schülern in einer Lerngruppe wiederfinden. Der Schulversuch „Jahrgangübergreifendes Lernen“ läuft seit zwei Jahren erfolgreich. Das Modell könnte Dauerzustand werden

von TILMAN STEFFEN

„Es ist Krieg“, ruft Tugay, dann fliegen Schnipsel eines Radiergummis in Richtung der hinteren Tische. Die Resonanz der so Herausgeforderten hält sich in Grenzen. Nadja übt weiter Blitzrechnen am Klassencomputer, Furkan sucht am Wochenplan seine nächste Aufgabe. Der Schulalltag in der Rudolf-Wissell-Grundschule im Wedding lässt sich nicht so leicht erschüttern.

Heidrun Winkler unterrichtet hier im nunmehr dritten Jahr Schüler mehrerer Altersstufen gemeinsam. Mit dem altersgemischten Unterricht könnte ein Weg aus der derzeitigen Bildungsmisere gefunden werden: In Bezirken mit hohem Ausländeranteil sind Klassen mit mehr als drei Kindern deutscher Herkunft selten. Viele der Grundschüler wüssten weniger über ihre Umwelt, als sie in ihrem Alter sollten, sagt Winkler. Selbst deutsche Sechsjährige ordneten dem Frühjahr das Weihnachtsfest zu, klagt eine Kollegin. Und manch ein Zuwandererkind habe mit neun Jahren noch keine Schule von innen gesehen.

Um einen Ausweg zu finden, hatten auf Initiative der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaften (GEW) und des Schulsenats die Lehrerinnen an acht Berliner Grundschulen zunächst probeweise Grundschuljahrgänge zusammengelegt. Nach nunmehr zwei Jahren beurteilen Verwaltung, Gewerkschaft und Eltern das Projekt Jahrgangübergreifendes Lernen (JÜL) überwiegend positiv: „Sehr zufrieden“ sei sie mit der Schule, sagt eine tunesische Mutter am Tor der Weddinger Schule. Auch Dina Ahmadi bereut ihre Wahl nicht, ihre Tochter lernt in einer Gruppe von Vier- bis Sechstklässlern.

Das Interesse am Jahrgangsübergreifenden Lernen an der Rudolf-Wissell-Grundschule steigt: In diesem Jahr bewarben sich die Eltern von 35 Kindern um einen der 23 Plätze. Die Hälfte davon wurde per Los besetzt, erklärt Schulleiter Wolfgang Gunkel. Die andere „wegen gewachsener Bindungen“ an Geschwisterkinder bereits lernender Schüler.

Lerngrundlage der jahrgangübergreifenden Gruppen ist der Wochenplan, eine Aufgabenliste, die durch die Kinder selbstbestimmt abgearbeitet wird. So kann es sein, dass Tugay Schreibschrift übt, Svenja Malrechnung trainiert und Merlin am Computer Testaufgaben löst. Das Nebeneinander schult Konzentration und Lernselbständigkeit, ermöglicht aber auch gegenseitige Hilfe und Korrektur: Was Mallissandra Schwierigkeiten macht, kann sie sich von Onur erklären lassen.

Die Lehrerin steht nicht mehr vorn am Pult, sondern kann ihre Schülerinnen und Schüler ganz individuell fordern und fördern. Wer für sein Alter zu gut ist, bekommt Aufgaben aus der nächsthöheren Klassenstufe. Binnendifferenzierung nennen das die Fachleute aus der Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport. Diese Binnendifferenzierung sei für meisten, bisher vom Pult aus agierenden Lehrerinnen problematisch, urteilt ein Bezirks-Bildungsexperte. Maximal 15 Prozent der Berliner Lehrerinnen seien in der Lage, Lerninhalte an Schüler individuell zu vermitteln. Bevor JÜL als Bildungsmodell dauerhaft eingeführt werde, müssten die Lehrer gezielt weitergebildet werden.

Auch die GEW-Referentin Sabine Dübbers erwartet, dass die Kolleginnen in ihren Lerngruppen „Heterogenität bewusst als Teil des Konzeptes begreifen“. Durchweg Positives verlautet aus den Schulen: Die Lernmotivation sei in den Lerngruppen viel größer, durch Nachahmen und Anleitung Jüngerer durch Ältere lernten die Kinder tatsächlich auch voneinander, berichten die Lehrerinnen aus der Rudolf-Wissell-Grundschule. JÜL sei eine „unglaubliche Erleichterung“, sagt Heidrun Winkler. Auch ihre Kollegin Eva Löffel ist bereits überzeugte JÜL-Anhängerin: Der Arbeitsaufwand außerhalb der Unterrichtszeit sei zwar gestiegen, „aber ich möchte nicht wieder in die alte Klasse zurück“.

Risiken gebe es bei JÜL „gar keine“, sagt Angelika Hüfner, Pädagogische Referentin in der Schulverwaltung. Räumt dann aber doch ein, dass das Lernmodell in Wedding die jüngeren Schüler und schneller Lernende bevorzuge. Wer bereits als Drittklässler in den JÜL-Versuch einstieg, kam weniger in den Genuss, durch ältere Mitschüler gefördert zu werden. Auch würden Eltern neben den Zensuren für ihre Kinder zuweilen auch die bekannte Stabilität einer herkömmlichen Klasse vermissen, beschreibt Hüfner vorhandene Akzeptanzprobleme. Das JÜL-Konzept dennoch in das geplante Schulgesetz zu integrieren, ist für Schulsenator Klaus Böger (SPD) durchaus vorstellbar: „Ich bin sicher, dass wir das weiter machen werden.“

Beim Geld schieben sich Bezirke und Senat die Verantwortung allerdings gegenseitig zu. „Wir sind etwas enttäuscht“, sagt Referentin Hüfner über das materielle Engagement der Schulen. Eine Bedingung des JÜL-Versuchs war, dass die Schulen die Kosten für die Unterrichtsmaterialien tragen. Bezirke und Schulleiter aber hatten sich offenbar auf die Improvisationsgabe der Lehrerinnen verlassen.