Leben im Pumpensumpf

■ Die Inszenierung „Unter N.ormal N.ull“ gab Einblicke in die Welt der Dunkelheit, der Schlammgeborenen im Abwasserkanal

Der Weltraum. Unendliche Weiten. Und keiner weiß, was da draußen wirklich ist. Leben? Der Mensch braucht Mythen, kleine Gruselgeschichten und unerklärliche Phänomene, mit denen sich andere Menschen dann beeindrucken lassen. Genau so ist es auch mit der Bremer Abwassersystem. Unendliche Kanäle, keiner weiß, was da unten wirklich ist. Leben? Goldfisch-Mutanten, die einst die Toilette hinunter gespült wurden? Es gibt Leben in der Bremer Kanalisation, davon konnten sich eine Menge Leute am letzten Wochenende überzeugen. Ort der gräulichen Entdeckung war das Alte Pumpwerk Findorff, in dem die Zuschauer zunächst die dicke historische Pumpe namens Elsbeth bewunderten, die ganze 2.000 Liter Wasser in einer Sekunde pumpen kann. Dieter Hasloop, ein Mitarbeiter der Hanse Wasser, berichtete aus der Geschichte des Bremer Kanalsystems. Und dann kam eine dubiose Dame namens Anna Wichert ins Spiel, die eine noch dubiosere Geschichte erzählte: Ihr Großvater, so erinnert sie sich, habe früher unten im so genannten Pumpensumpf, ganz unten im Kanal, gearbeitet. Seine Frau gab ihm täglich das Essen in einem Topf mit, aber einmal, da öffnete er den Topf und der war vollkommen leer. Bis auf eine etwa handgroße weiße, affenähnliche Figur. Ein Dankeschön. „Mein Großvater hat da unten einen Hungrigen gespeist und diese Figur habe ich geerbt.“ Brrr, Gänsehaut.

Dann ging es nach unten in eine schummrige Röhre, wo es überall nach Lehm roch und Kresse an der Decke wucherte. Dort saßen sie tatsächlich, die Schlammgeborenen. Gestalten, über und über mit Lehm bedeckt, die keuchten und seltsame Laute ausstießen.

Nein, so schlimm war es gar nicht. Die Schlammgeborenen sind eigentlich normale Menschen, die sich im Kulturladen Huchting engagieren und die schräge Idee hatten, in Bremens Kanalisation eine kleine aber gediegen-theatralische Inszenierung zu zeigen. „Unter N.ormal N.ull“ lautete der Titel der unterirdischen Entdeckungsreise. Ja, es gibt ein Leben unter Tage.

Eine riesengroße Schweinerei muss das gewesen sein, als die Theatergruppe alle Eisengeländer dort unten inklusive sich selbst von oben bis unten mit Lehmbatzen zugekleistert hat – aber es hat gewirkt. Die Stimmung war perfekt – schummrig, gruselig, unheimlich. Und dann die durchs Wasser watenden Lehmmenschen mit ihren Feuerexperimenten. Viel Text gab es nicht auswendig zu lernen für die Schlammgeborenen, dafür aber für die anderen Mitwirkenden: Erzählerinnen wie Anna Wichert, Männer und Frauen in mittelalterlichen Gewändern, die von der Choleraseuche Ende des 19. Jahrhunderts berichteten, oder fünf grauenhafte Gestalten in schwarzen Gewändern.

Eine Handlung gab es nicht, dies war aber wohl auch nicht der Sinn der Inszenierung. Die Atmosphäre des unterirdischen Kanals hätte jedenfalls kaum besser ausgenutzt werden können. Ein Schauder fließt jetzt noch über den Rücken beim Gedanken an die dumpfen Trommelklänge im Kanal und die lehmigen Gestalten mit den weit aufgerissenen Augen. Vielleicht denkt man ja das nächste Mal an sie, wenn man den Goldfisch die Toilette runterspült. spo