Ein-Mann-Armee gegen die Taliban

Nach dem Attentat auf den Chef der afghanischen „Nordallianz“, Massud, blühen die Spekulationen

DEHLI taz ■ Liegt er bereits unter der Erde oder noch im Koma? Liegt er unter dem Messer der Ärzte in der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe oder bereits wieder im Spitalbett, mit nur wenigen Schnittwunden, wie dies sein Bruder in London verbreiten ließ? Westliche Diplomaten in Duschanbe gehen davon aus, dass Ahmad Schah Massud, der „Löwe des Panschir“ und Militärchef der afghanischen „Nordallianz“, bei einem Attentat ums Leben gekommen ist. Doch die heftigen Spekulationen zeigen, wie wichtig er für viele Leute, Organisationen und Staaten ist.

Die einen nehmen bereits das Ende der Allianz gegen die Taliban vorweg, während Massuds Anhänger jedes Interesse haben, die Wirkung des Selbstmordattentats zweier angeblicher Journalisten herunterzuspielen. Nur die eigentlichen Drahtzieher hüllen sich in Schweigen. Die Taliban, die Hauptverdächtigen, weisen jede Verwicklung von sich, mit dem Argument, dass sie sich stolz dazu bekannt hätten, wenn es ihnen gelungen wäre, ihren Erzfeind auszuschalten.

Was immer das Los des 49-jährigen Tadschiken aus dem Panschirtal ist, die Spekulationen beweisen, wie sehr die einzige ernsthafte Widerstandsbewegung gegen die Taliban von einer Person abhängt und wie zerbrechlich sie daher ist. Seit sich Massud mit seinen Kämpfern 1996 aus Kabul in den Norden abgesetzt hat, haben die Taliban ihren Wirkungsbereich ständig weiter ausgedehnt. Zuerst brach die „Nordallianz“ unter Burhanuddin Rabbani, der sich als „Staatspräsident“ anreden lässt, zusammen. Der Hindukusch-Riegel als Frontlinie ging verloren, und der Usbeke Raschid Dostam setzte sich in die Türkei ab. Dann schrumpfte das Operationsgebiet Massuds immer mehr auf zwei Provinzen im äußersten Nordosten des Landes zusammen, mit einer sehr verletzlichen Nachschublinie in das eigentliche Bollwerk Massuds im zentralen Panschirtal. Massud konnte dieses bisher halten und die Front zeitweise gar nach Süden ausdehnen. Eine ernsthafte militärische Gefährdung der Taliban stellte er aber nicht mehr dar.

Doch solange diese den Norden nicht ganz unter ihre Kontrolle gebracht haben, sind die Taliban für die zentralasiatischen Anrainerstaaten keine unmittelbare Gefahr. Es waren daher diese Staaten und hinter ihnen Russland, die Massud mit Waffen, Munition und Transportmitteln versorgen. Über die Grenzen Tadschikistans und Usbekistans laufen auch die Hilfslieferungen aus dem Westen. Es ist der Westen und dessen Abneigung gegen die Islamschüler in Kabul, die dafür sorgen, dass – in Abweichung von normaler internationaler Rechtspraxis – weiterhin die fiktive „Allianz“ unter Rabbani diplomatisch anerkannt wird. Dies ermöglicht es Rabbani und Massud, die UNO für sich einzuspannen, die ihren Boykott gegen die Taliban immer mehr verschärft. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die UNO-Beobachter, die das Waffen-Embargo gegen Afghanistan überwachen, dies nur in den von den Taliban kontrollierten Gebiete tun, während der Nachschub für Massud bisher kaum gelitten hat.

BERNARD IMHASLY