Selbstmord aus Solidarität mit den Hungernden

Attentat in Istanbul fordert drei Tote und mindestens 20 Verletzte. „Revolutionäre Volksbefreiungfront“ bekennt sich zu dem Anschlag

ISTANBUL taz ■ Mit einem lauten Knall meldeten sich gestern die hungerstreikenden Gefangenen der linksradikalen „Revolutionären Volksbefreiungsfront“ (DHKP-C) in der türkischen Öffentlichkeit zurück. Um an den seit knapp einem Jahr dauernden Hungerstreik in mehreren Gefängnissen zu erinnern, sprengte sich am Montag der 25-jährige Ugur Bülbül vor einer Polizeistation am zentralen Istanbuler Taksim-Platz in die Luft. Er tötete dabei zwei Polizisten. Mehr als 20 Passanten wurden zum Teil schwer verletzt.

Die Explosion war bis in die angrenzenden Stadtviertel zu hören und löste in der belebten Straße Panik aus. Zum Zeitpunkt des Anschlags um 17.30 Uhr wartete eine lange Schlange von Büroangestellten nur wenige Meter vom Attentatsort auf den Bus. Das deutsche Konsulat ist ebenfalls nur 200 Meter entfernt. Der Attentäter ging nach Polizeiangaben auf die Wache zu, versuchte noch mehrere Polizisten in das Gebäude hineinzudrängen und zündete die Bombe. Der Tatort bot ein Bild des Grauens. Durch den Druck der Explosion wurden Körperteile mehr als hundert Meter durch die Luft geschleudert. Der türkische Innenminister Rustu Kazim Yucelen ermahnte gestern die Häftlinge zur Aufgabe ihres Hungerstreiks. Sein Aufruf sei eine „letzte Warnung“, sagte Yucelen.

Der Attentäter wurde als Ugur Bülbül identifiziert, ein Mitglied der DHKP-C, der erst vor sechs Monaten aus dem Gefängnis entlassen worden war, wo er sich ebenfalls an dem Hungerstreik beteiligt hatte. Nachdem es zunächst nur Gerüchte über eine telefonische Selbstbezichtigung gab, meldete sich gestern die Exil-Vertretung der DHKP-C aus Brüssel bei der Nachrichtenagentur AFP in Ankara und bekannte sich zu dem Anschlag.

Die Revolutionäre Volksbefreiungsfront DHKP-C ist die treibende Kraft des Hungerstreiks. Erst am letzten Samstag starb eine Frau an den Folgen des Streiks. Sie war die 33. Tote.

Mit ihrem Hungerstreik protestieren die Gefangenen gegen ihre Verlegung in neue Gefängnisse, die gegenüber dem alten System, wo bis zu 60 Leute in einem Trakt saßen, nur noch Einzel- oder Dreier-Zellen haben. Nachdem Sondereinheiten im Dezember letzten Jahres zwanzig Gefängnisse stürmten, um hungerstreikende Gefangene in die neuen Knäste zu verlegen, wobei ebenfalls 30 Menschen getötet wurden, taucht der Hungerstreik in den großen Medien der Türkei praktisch nicht mehr auf. Die Regierung sieht sich daher nach einigen kosmetischen Änderungen im Knastalltag zu keinen weiteren Konzessionen genötigt und war in den letzten Wochen dazu übergegangen, Streikende, bevor sie im Gefängnis starben, als haftunfähig zu entlassen.

Von Seiten der DHKP-C gibt es noch keine programmatische Erklärung über ihr weiteres Vorgehen. Das Selbstmordattentat war das erste zu dem diese Organisation sich bekannt hat. In Sicherheitskreisen fürchtet man, das Attentat könnte der Auftakt für eine Serie von Anschlägen durch die DHKP-C sein, die mehrfach erklärt hat, sie würde den Hungerstreik keinesfalls abbrechen vor ihre Forderungen erfüllt würden. JÜRGEN GOTTSCHLICH