„Vor uns hat Deutschland Angst“


Interview: GABRIELE LESSER

taz: Warum betonen polnische Politiker immer, dass sie in Brüssel „wie Löwen“ kämpfen? Muss sich Polen gegen die Europäische Union verteidigen?

Tadeusz Mazowiecki: Nein. Wenn polnische Politiker sagen, dass sie das Land verteidigen, dann meinen sie, dass sie die besten Beitrittsbedingungen für Polen herausholen wollen.

Auch Sie selbst haben gesagt: „Wir wollen Mitglied der Europäischen Union werden, aber nicht auf den Knien.“

Ja, das habe ich gesagt. Aber so wie wir Polen verstehen müssen, dass wir als künftiges Mitglied der EU deren Regeln einhalten müssen, so müssen auch die EU-Politiker verstehen, dass wir keine Bittsteller sind. Wir sind Partner, die nach der Aufnahme in die EU mit am gleichen Tisch sitzen werden. Ich will jetzt keine Beispiele nennen, wo wir Polen uns von Brüsseler Beamten gedemütigt fühlten. Aber es gibt Grenzen des Aushaltbaren.

Wo ist diese Grenze? Vielleicht fühlen sich Polen gedemütigt, ohne dass es die EU-Politiker und Beamten überhaupt merken.

Die polnische Gesellschaft hat seit 1989 schon einen sehr weiten Reformweg zurückgelegt, der zum Teil mit hohen Opfern erkauft wurde. Die EU erwartet weitere Reformen, und wir werden sie durchführen. Aber wir hoffen auf Verständnis, wenn es mal zu einem zeitweisen Stillstand kommt, wenn die Menschen sagen: „Wir können den Gürtel nicht noch enger schnallen, beim besten Willen nicht. Es geht nicht mehr.“

Versteht das niemand in der EU?

Nehmen Sie die Diskussion um das Beitrittsdatum. Da hat es einerseits große politische Erklärungen von Kohl und Chirac gegeben, von Schröder und Blair, dann aber auch eine ganze Serie von Aussagen, aus denen für uns klar hervorging, dass die EU gar kein Interesse an einer raschen Aufnahme der östlichen Nachbarn hat. Das hat bei vielen Polen den Reformeifer gebremst, weil sie sich gesagt haben: „Die wollen uns ja doch nicht.“

Inzwischen gibt es den Termin 2004.

Es ist nicht das Datum allein. Auch dass wir Regeln übernehmen müssen, von denen jeder in der Europäischen Union weiß, dass sie unsinnig sind. Warum geht die EU nicht gleichzeitig mit den zwölf Kandidaten das gesamte Regelwerk durch und entrümpelt es von überflüssigem Ballast? Aber nein, Brüssel beharrt auf der Übernahme jeder noch so unsinnigen Regelung. Es fällt schwer, sich dabei als Partner zu fühlen.

Ist Polen deshalb bei den Verhandlungen mit der Europäischen Union auf den drittletzten Platz unter den zwölf Kandidaten zurückgefallen?

Die Kandidaten werden ja nicht nach der Zahl der abgeschlossenen Kapitel bewertet. Wichtiger ist die Gesamtsituation, also ob das Reformland bereits ein Rechtsstaat ist, ob die Demokratie „stabil“ genannt werden kann. Und hier liegt Polen sicher nicht am Ende der Rangfolge. Polen ist das größte aller Beitrittsländer und hat daher auch die meisten Probleme.

Aber macht sich Polen nicht auch Probleme, die eigentlich keine sind? Zum Beispiel bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit?

Die EU fordert eine Arbeitssperre von sieben Jahren, nicht wir. Das ist ein Problem der EU.

Im EU-Kompromiss ist vorgesehen, dass jedes Mitgliedsland einzeln mit den Kandidatenländern andere Übergangsfristen aushandeln kann, wenn es will. Die baltischen Republiken zum Beispiel haben mit den skandinavischen Staaten bereits die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit vereinbart.

Das sind kleine Länder. Vor uns aber haben einige EU-Länder Angst – Deutschland vor allem und Österreich.

Können Sie diese Angst verstehen?

Doch, natürlich. Aber wir haben den Vorschlag gemacht, dass statt einer Arbeitssperre von sieben Jahren eine Art Schutzklausel vereinbart wird: Wenn tatsächlich zu viele Arbeitnehmer nach Westen ziehen, könnte die Sperre verhängt werden. Aber erst dann. Doch dieser Vorschlag wurde nicht einmal diskutiert. Daher lehnen wir die EU-Übergangsfrist von sieben Jahren grundsätzlich ab.

Vor einigen Tagen hat die EU-Kommission eine soziologische Studie über die Ängste in den Kandidatenländern veröffentlicht. Dort heißt es: „Die meisten Gesellschaften stehen der EU offen und ohne Vorurteile gegenüber. Die Polen hingegen empfinden gegenüber der EU ein starkes Minderwertigkeitsgefühl. Dies hängt mit der Vorstellung der Polen zusammen, dass sie im Ausland vor allem als Diebe und Betrüger angesehen werden.“

Dieses Gefühl gibt es in Polen tatsächlich, aber es ist nicht dominierend. Ich zum Beispiel habe kein Minderwertigkeitsgefühl. Auch die jungen Leute, mit denen ich viel zu tun habe, sind nicht komplexbeladen. Sie sind meist gut ausgebildet, sprechen mehrere Sprachen, kennen das Ausland – das sind ganz normale, selbstbewusste Polen. Dass die Europäische Union dann ausgerechnet diesen jungen Leuten sagt, wir wollen nicht, dass ihr zu uns kommt, frühestens in sieben Jahren – das ist natürlich frustrierend. Die Leute überlegen sich, warum die EU sie nicht will. Im Übrigen gibt es diese Negativ-Stereotype über Polen ja tatsächlich im Westen.

In der EU-Studie heißt es weiter, dass die Polen neben den Letten am schlechtesten über die EU informiert sind, sich aber auch für die EU nicht interessieren.

Das ist sicher richtig. Die Polen sind tatsächlich schlecht über die EU informiert. Ich habe das selbst schon oft kritisiert. Weder die Regierung noch die Medien klären genügend über die EU auf. Aber das Thema ist auch spröde. Viele fangen gleich an zu gähnen, wenn sie nur EU hören. Dennoch ist es schon besser geworden. Je näher der Beitritt rückt, umso spannender werden die Fragen. Und damit wird auch das Interesse wachsen.

Warum will nur rund die Hälfte der Polen in die EU? Hängt das mit der schlechten Information zusammen?

Auch, aber nicht nur. Es gibt auch politische Parteien, beispielsweise die „Alternative“, die den Leuten einreden, dass Polen in der Europäischen Union seine Souveränität verlieren würde. Auf meiner Wahlkampfreise protestierte hin und wieder jemand von der „Alternative“ gegen mich, indem er einfach nur ein Plakat hochhielt, auf dem stand: „Liebe dein Land!“ Als würde ich mein Land nicht lieben! Die pure Information reicht also nicht. Wir müssen die Botschaft, dass es gut für uns Polen ist, wenn wir in der EU sein werden, auch gefühlsmäßig vermitteln.

Die Begeisterung für die Europäische Union war ja einmal wesentlich höher. Warum ist sie so stark gefallen?

Den Leuten ist klar geworden, dass die EU nicht das Paradies auf Erden sein wird. Dass wir selbst hohe Leistungen erbringen müssen. Die Ernüchterung hat auch mit den sich so zäh hinziehenden Verhandlungen zu tun. Spanien und Portugal hatten bei ihrem EU-Beitritt andere Ausgangsbedingungen, weil diese Länder bereits eine Markwirtschaft hatten, wir mussten sie völlig neu aufbauen. Und wenn wir dann einerseits Lob für das bekommen, was wir seit 1989 geschafft haben, andererseits die EU aber immer noch nicht grünes Licht für den Beitritt gibt, dann muss man sich nicht wundern, dass die Begeisterung abkühlt.

Noch einmal zur Studie der EU-Kommission. Polen wird ein schwieriges Mitglied in der EU sein, steht dort, weil die Polen nur schwer Kompromisse schließen könnten, die Entscheidungen in der EU aber gemeinsam getroffen werden. Muss die EU nun Angst vor Polen haben?

Das ist nicht fair. Auf dem Gipfel von Nizza wollten die 15 alten Mitglieder das Mehrheitsprinzip bei den Abstimmungen einführen. Dann gab es aber von allen Seiten Widerstände, weil fast jedes Land fürchtete, es könnte überstimmt werden und somit zu etwas gezwungen werden, was es absolut nicht will. Genauso geht es Polen heute bei den Verhandlungen. Polen ist in dieser Hinsicht nicht besser und nicht schlechter als die bisherigen Mitglieder.

Aber die Polen haben oft das Gefühl, die Verhandlungspartner wollten sie über den Tisch ziehen.

Jeder weiß doch, dass jedes Land zuallererst seine eigenen Interessen verteidigt. Wir müssen zunächst diese Interessen kennen lernen. Dann aber wollen wir die Entscheidungen in der EU mitgestalten und nicht auf der Seite stehen. Eine „Keinen Schritt weiter“-Strategie könnte ja auch zur Folge haben, dass wir Fördermittel der EU verlieren. Das aber wäre gegen unser Interesse. Also werden wir konstruktiv mitarbeiten.

In welchem Bereich ist Polen bereits richtig gut auf die EU vorbereitet?

In der Wissenschaft. Die Wissenschaftler arbeiten schon lange im Bewusstsein, nicht nur der europäischen Gemeinschaft, sondern der Weltgemeinschaft anzugehören. Die polnische Elite lebt bereits „in der EU“, auch wenn das Land noch gar kein EU-Mitglied ist. Das ist sicher die beste Vorbereitung auf die EU.