Hilflose Zeichen der Trauer

Weil vielen Menschen in Berlin nach den Anschlägen in den USA die Worte fehlen, strömen sie seit Dienstagabend in die Kirchen der Hauptstadt. Die Gotteshäuser sind überfüllt, Christen und Nichtchristen in ihrer Fassungslosigkeit vereint

von PHILIPP GESSLER
und FRIEDERIKE GRÄFF

Georg Kardinal Sterzinsky, den Erzbischof von Berlin, als begnadeten Prediger zu bezeichnen, wäre etwas schmeichelhaft. Und den protzigen Berliner Dom am Lustgarten ein intimes Gotteshaus zu nennen, ist sicherlich falsch. Doch an diesem Dienstagabend ist nichts wie sonst – und so findet der katholische Bischof die richtigen, tröstenden Worte vor den über 1.500 Menschen, die in den Dom geströmt sind, nachdem die Fernsehbilder von der Anschlagserie in den USA zu sehen waren: Der allzu prächtige Dom wird zu einem Ort der Trauer, des Gebetes, des Mitgefühls. Wildfremde Menschen vereint die Fassungslosigkeit.

Sterzinsky, der wie sein evangelisches Pendant, Landesbischof Wolfgang Huber, die violette Stola der Trauer trägt, versucht, der Sprachlosigkeit in einem ökumenischen Gottesdienst Worte zu geben. Er spricht vom Mitgefühl für die Opfer, ihre Verwandten und Freunde. Er mahnt aber auch: Die verantwortlichen Politiker müssten jetzt besonnen handeln – an der Spirale der Gewalt dürfe nicht gedreht werden. Bei Verlesung der Bergpredigt im Evangelium nach Matthäus betont Sterzinsky vor allen diesen Vers: „Selig, die keine Gewalt anwenden, denn sie werden das Land erben.“

Bischof Huber klagt über die „Boshaftigkeit des menschlichen Herzens“, die allein Gott überwinden könne. Er gedenkt der Feuerwehrleute, die im World Trade Center beim Versuch umkamen, andere Menschen zu retten. Schockiert zeigt sich der Oberhirte über die Bilder derer, die sich in Panik aus den hohen Etagen der New Yorker Zwillingstürme gestürzt haben: Sie könnten jedoch „nicht tiefer fallen als in Gottes Hand“.

Während des Gottesdienstes stehen Hunderte Menschen vor dem Dom. Viele legen die Rosen auf den roten Läufer der Stufen zum Altar. Das Bedürfnis, Zeichen für die Trauer zu finden, ist überdeutlich. Gläubige stehen Schlange vor einem Opferstock im rechten Seitenschiff des Doms. Sie stecken Kerzen auf einen vielarmigen Leuchter.

Auch in anderen Gotteshäusern wird der Toten gedacht. Caroline und Kerstin hatten die Glocken gehört, kurz vor 21 Uhr, und sich gedacht, „dass es irgendetwas mit den Unglücken in den USA zu tun hat“. Also haben sie sich auf den Weg in die Zionskirche gemacht, wo Pfarrerin Amelie Freund eine kurze Andacht hielt. Unvorbereitet und unangekündigt, denn erst kurz davor hatten die Pfarrer und Pfarrerinnen dreier evangelischen Kirchen in Mitte ihre Sitzung abgebrochen, um stattdessen ihre Kirchen zu öffnen. Damit andere hier Trost finden können – und auch sie selbst. Teile ihrer Familie waren am Unglückstag in New York, und nicht von allen hat sie Nachricht.

In der Sophienkirche, wenige Straßen weiter, ist es fast dunkel, nur am Altar brennen Kerzen. Er habe Sturm geläutet, sagt Pfarrer Hartmut Scheel, und dabei an die Zeit vor zwölf Jahren gedacht, als man sich häufig so getroffen habe. Nach der Andacht stehen die Menschen noch vor der Kirche zusammen. Zu sagen ist wenig. Die meisten sind junge Leute. Arne und Matthias waren in den Gottesdienst am Dom nicht mehr hineingekommen. Warum sie nach dem Unglück hierher kommen? Aus Anteilnahme für die Opfer. Und aus Enttäuschung darüber, „dass man sich plötzlich fast im Krieg befindet“.

Gestern Morgen strömen die Menschen wieder in die Kirchen: Der Bebelplatz vor der katholischen St.-Hedwigs-Kathedrale ist voll, auch dieses Gotteshaus ist wieder überfüllt. Die Staatsspitze samt Bundespräsident, Kanzler, dem halben Kabinett und den Köpfen der Opposition ist anwesend. Der Andrang ist so groß, dass selbst Spitzenpolitiker wie Bundesfinanzminister Hans Eichel stehen müssen. Auf dem Platz vor der Kathedrale harren über tausend Menschen während des Gottesdienstes aus, obwohl weder Bild noch Ton nach außen übertragen werden. „Es gibt keinen Gott, auf den man sich zur Rechtfertigung solcher Taten berufen kann“, sagt Huber.

Im purpurnen Chorkleid tritt Kardinal Sterzinsky, als alle Politiker mit schweren Limousinen davongefahren sind, zu den wartenden Menschen vor der Kirche. Er lädt sie ein, zusammen in der Kathedrale zu beten. Wieder füllt sich das Gotteshaus bis auf den letzten Platz, stehen viele, müssen Dutzende draußen bleiben.

Einige der Gebete und Gesänge werden wiederholt. Viele Schüler sind gekommen. Die meisten von ihnen scheinen kaum ein Gebet zu kennen und wohl eher selten in einer Kirche zu sein – aber wenn man sie fragt, warum sie gekommen sind, sagen sie nur: „Zum Beten.“