Die visuelle Kriegserklärung

Der neue Krieg des 21. Jahrhunderts kommt in merkwürdig bekannten Bildern über uns. Die Katastrophe spukte längst schon in unseren Bildwelten

Und einige Radiosender leisteten sich auch, was das Fernsehen längst nicht mehr kann: ein Innehalten, den Raum für die Trauer

von GEORG SEESSLEN

Etwas ist da geschehen, von dem jeder und jede mehr oder weniger deutlich begreift, dass da ein Zeitalter zu Ende gegangen ist, dass da eine neue Form von Krieg begonnen hat. Merkwürdigerweise allerdings kommen die Bilder dieses so radikal neuen Ereignisses in Form eines bizarren Déjà-vu über uns. Eine Katastrophe, die schon längst in unseren Bildwelten spukte, im Kino sowieso. Wir kennen die Bilder des brennenden Hochhauses aus „Towering Inferno“ (Flammendes Inferno), wir kennen die terroristischen Aktionen, die Flugzeugentführungen und -Abstürze wie in „Airport“, die Attentate, die sich gegen Herzstücke der amerikanischen Kultur (also gegen Herzstücke der Ökonomie) richten, aus den „Die Hard“- (Stirb langsam)-Filmen mit Bruce Willis, wir kennen die panische Flucht durch die Straßen der Metropole aus „Independence Day“ und so weiter. Die Bilder der zerstörten Twin Towers, der Panik und der Trümmer, die uns das Fernsehen in mantrahafter Wiederholung bot, schienen so sehr Kino, dass sie Gefahr liefen, sich von Wiederholung zu Wiederholung mehr zu entwirklichen. Als sähen wir da den Trailer für den nächsten Demolition Blockbuster, der seine beeindruckendsten Effekte schon einmal vorführt. Coming Soon! At a theatre near you! Und übrigens: Size does matter!

Wir kennen aber nicht nur die Bilder und die Szenarien, wir kennen auch die Struktur dieses globalen Krieges aus unzähligen Söldner- und Terrorfilmen, in denen der amerikanische Agent so rasch in die Schaltzentralen des kolumbianischen Drogenbosses eindringt, wie dessen Leute die Symbolbauten der ökonomischen und politischen Macht infiltrieren. Nicht einmal so törichte Invasionsfilme wie „Independence Day“ konnten die Idee einer so klaren Gliederung des ins Orbitale verlängerten Schlachtfeldes aufrecht erhalten, dass man sich von so etwas wie einem Raketenabwehrsystem wirklich Sicherheit erhoffen durfte. Was die Fantasien der populären Kultur, die man ja nicht selten als eine neue, maschinell fabrizierte Form des kollektiven Unterbewusstseins angesehen hat, wissen, das ist genau das Gegenteil der offiziellen Politik der Bush-Administration. Dieses Wissen um die eigene Verwundbarkeit weist nicht nur einen gehörigen Anteil an Furcht vor einer Gefahr auf, vor der eben diese offizielle, rhetorische Politik des „America first“ nicht schützen kann, sondern zeigt eine Stufe tiefer in diesem kollektiven Bewusstsein auch einen Anteil von Schuldgefühlen. Man erzeugt durch diesen zum nationalen Glaubensbekenntnis gewordenen Egoismus nicht nur die Naturkatastrophen, Atomexplosionen, chemische Verseuchungen, man erzeugt auch den „Terrorismus“, dessen cineastische Vertreter im Übrigen, wie jüngst in „15 Minuten“, sich durchaus bewusst sind, dass die Medien ihre besten Verbündeten sind.

Diese „Kriegserklärung“, vielleicht gegen die „zivilisierte Welt“, wie Gerhard Schröder meint, vielleicht gegen die ignoranten Gewinner der Globalisierung, hat, so scheint es, zunächst keinen Autor. Und mehr noch: Sie hat keinen Text. Das ist nicht nur eine neue Form der Maskierung in einem globalen, technisch-archaischen Partisanenkrieg, in dem nicht mehr der Dschungel und das Gebirge die Rückzugsgebiete bilden, sondern der Bildernebel der audiovisuellen Medien. Die Kriegserklärung ohne Autor und ohne Text (nicht einmal mehr in der reduzierten Form eines Bekennerschreibens) ist reines Bild, verfasst in der Sprache, die diese Zivilisation zu der ihren gemacht hat.

In einer Kriegserklärung, die nicht die Form eines Textes, sondern die Form von Bildern hat, gibt es weder eine diskursive Ursache noch eine rationale Absicht. Weder bombt man etwas herbei, noch stärkt man irgendeine Position, weder zwingt man jemanden zu Verhandlungen noch könnte sozusagen ein konkretes Subjekt der Auseinandersetzung gestärkt werden. Die Erschütterung geht also noch über die gewohnte terroristische Drohung hinaus: Es kann jeden treffen. Es kann überall eintreffen. Es kann zu jeder Zeit eintreten. Der subjektlose Krieg produziert Bilder des Terrors ohne zugleich Bilder der Terroristen zu produzieren. Er produziert, das ist das furchtbarste an ihm, und auch das kennen wir aus unseren kollektiven Fantasien, nicht einmal mehr Geschichte, nicht mehr Bewegung, sondern Lähmung, Stillstand. Das Entwirklichen der Bilder durch ihre endlose Wiederholung wie durch ihre Rückbindung an die Bilderfiktionen ist auch ein Entzeitlichen: Dieses Bild des Grauens kann nur noch religiös empfunden werden (was, vorhersagbar,die Bild-Zeitung zu ihrem Titel bringt: „Großer Gott, steh uns bei!“).

In den „Die Hard“-Filmen ist die Spirale von Bildproduktion und Terrorismus noch um eine Drehung weiter entwickelt. Die vermeintlichen Terroristen mit einem politischen Hintergrund erweisen sich nämlich immer als Leute, die mit dem terroristischen Akt die Öffentlichkeit zwar mit den Bildern in Beschlag nehmen, in Wahrheit geht es ihnen aber immer um Geld. Die symbolische Ebene des Terrors – das Aufzeigen der Verwundbarkeit, die Erzeugung von Angst und Verzweiflung und genauer: den Verlust des Vertrauens auf der Opferseite in die eigene Führung – und seine Rationalität fallen in dieser Fantasie auseinander. Der wahre Kampf wird um die Märkte geführt. Erinnern wir uns an die Schurken in den James-Bond-Filmen. Auch sie interessieren sich nicht wirklich für die Ordnung und die Gerechtigkeit der Welt. Sie stürzen zum Beispiel, wie „Goldfinger“, die Welt ins Chaos, um den Preis für das etwas aus der Mode gekommene Edelmetall zu manipulieren. Fast verschämt haben es im Angesicht der Katastrophe die Moderatoren verkünden müssen, dass der Goldpreis um ein Viertel in die Höhe gegangen ist; dass die Aktien von Ölfirmen und Waffenfabrikanten rapide gestiegen sind, während der Rest des Aktienmarktes abstürzte. Dieser Zusammenhang ist uns mit Recht so peinlich, dass er sofort wieder ins kollektive Unterbewusstsein verschoben werden muss. Was wäre, wenn nicht nur die Medien, sondern auch die Marktstruktur selber Teil dieser Kriegserklärung wären?

Stattdessen haben wir in Ussama Bin Laden das Bild eines Feindes – ohne dass wir ihn als Autor des Anschlages identifizieren könnten –, der dem Superschurken, der nicht gegen den globalen Kapitalismus revoltiert, sondern sich auf besonders perfide Weise in ihn einschreibt, durchaus entspricht. Er ist weder ein Held der Armen noch religiöser Führer, weder Despot noch Stratege. Er ist ein Kapitalist, Millionär, einer, der Terror nicht ausübt, sondern finanziert, einer, der die Logik des Marktes beherrscht. Sehr fern und ganz nah zugleich. Eine Figur, von der wir nicht zu sagen wüssten, wie viel Erfindung und wie viel Wirklichkeit in ihr steckt. Und wie Goldfinger ist er nicht geheimnisvoll, nur auf eine beinahe unheimliche Weise trivial.

Es ist uns also neben der entortenden und entordnenden Gefahr der subjektlosen und textlosen Kriegserklärung als eine weitere Gefahr eine Entwirklichung des Geschehens entstanden, in der weder das rechte Bild (der verzweifelte Angriff der Bösen) noch das linke Bild (der böse Angriff der Verzweifelten) ganz passen mag. Das Subjekt des subjektlosen Krieges besetzt die Katastrophe, also das, was früher wahlweise Schicksal oder Natur war. Zunächst könnten wir beim besten Willen nicht sagen, die Bilder seien in irgendeiner Weise gelogen. Die Dramaturgie dieser Kriegserklärung freilich hat die Präsenz der Medien offensichtlich mit einkalkuliert. Der Film, den wir schließlich zu sehen bekamen, offenbart nicht zuletzt die Dialektik von Allmacht und Ohnmacht unseres Leitmediums. Beständig wurden wir in dem Medium selber darüber informiert, wie ganze Städte ausgestorben sind, weil alle Menschen nach Hause geeilt sind und sich vor den Fernseher setzten. Als wäre dies die einzige Rettungsmöglichkeit, die einzige Form, zugleich sicher zu sein, und nicht abgeschnitten von den Ereignissen. Aber dieses Fernsehen erschöpfte sich in der Aneinanderreihung der immer gleichen Bilder. Der Aufprall des zweiten Flugzeuges auf den Turm des World Trade Centers, der Einsturz, die flüchtenden Menschen. Das alles in der New Yorker Szene sehr nahe, schließlich mit Amateurvideos weiter authentisiert. Das brennende Pentagon aus großer Entfernung. Natürlich gibt es Gründe für diesen wechsel von Nahaufnahme und Totale, aber zugleich entsteht auch wieder ein Plot. Zwei symbolische Erzählungen, der Anschlag auf den Körper und der Anschlag auf das heilige Objekt. Und dieser Plot wird komplettiert (während wie gewohnt Politiker, Experten und Journalisten einen Wortteppich hinter den Bildern zu weben versuchen) durch eine dritte, die vielleicht problematischste Einstellung, nämlich die auf eine kleine Anzahl von Menschen, die kleine Wimpel schwenken, das Victory-Zeichen machen, lachen wie nach einem Fußballspiel, das von der eigenen Mannschaft gewonnen wurde und, Höhepunkt der Perfidie: Es werden Süßigkeiten auf der Straße verteilt. Wir sollen den Kommentatoren glauben, die auf den unterschiedlichen Kanälen diese Einstellung der jubelnden Palästinenser stets mit beinahe gleichen Worten als Ausweis einer Massenbewegung ausgeben. Wir sehen etwa ein halbes Dutzend Menschen, und die sehen wir wieder und wieder, als Darsteller „der“ Palästinenser, am Morgen dieselben wieder in den Zeitungen, die sich, auch in ihren seriöseren Formen an diesem Mittwoch alle in Bilder-Zeitungen verwandelt haben. Das Bildhafte dieser Kriegserklärung setzt sich hier fort. Dass dieser Dreierschritt: die terroristische Mordtat, die panischen Verletzten und schließlich die jubelnden Palästinenser, Empörung erzeugen muss, ist klar. Diese Montage spricht von einer mitleidlosen Rohheit, die sogleich auch auf Arafats Bekenntnis der Betroffenheit abfärben muss. Dieses intimistische Pars pro Toto einer Szene vor einem Kaffeehaus hat aber so viel Beweiswert wie ein Stück Soap Opera, das wir in ein historisches Geschehen einschneiden würden. Ob sie wahr oder falsch ist, tut daher wenig zur Sache, diese Einstellung konstruiert indes Wirklichkeit auf eine höchst zweifelhafte Weise.

Die Entwirklichung des Geschehens geschieht also auf mehreren Ebenen und paradoxerweise gerade dadurch, dass die eine Einstellung sich durch die andere verlorene Authentizität und verlorene Menschlichkeit zurückerobern will. Das Geschehen zerfällt in die große Kino-Metapher von der Katastrophe und in die intimistische Berichterstattung des gewöhnlichen Fernsehens. Das Fernsehen zeigte sich auf diese Weise, in allen Kanälen nach dem beinahe gleichen Muster, als unfähig gegenüber beiden Aufgaben, nämlich der objektiven Berichterstattung und dem subjektiven Empfinden, das wir einfach als Mitleid bezeichnen könnten. Ein scheinbar so beschränktes Medium wie das Radio war dieser Aufgabe sehr viel besser gewachsen. Es konnte Beschreibung, es konnte Konzentration auf die Stimmen von Zeugen bieten, an denen vielleicht überhaupt erst zu erkennen war: Das sind Menschen. Leidende, verzweifelte, angsterfüllte Menschen. Und nicht Schauspieler und Stuntmen, keine computergenerierten Action-Partikel. Und einige Radiosender leisteten sich auch, was das Fernsehen längst nicht mehr kann: ein Innehalten, ein Schweigen, den Raum für die Trauer.

Die subjekt- und textlose Kriegserklärung hat also im Fernsehen ihren besten Verbündeten, das sich heillos in der Falle von Authentizität, Aktualität und Fiktionalisierung verfangen hat. In einem solchen Augenblick rächen sich die marktgängigen Verkommenheiten von Reality TV, „Big Brother“ und Trash-Fernsehen, in der wir gelernt haben, die Welt nur noch als Abfall unserer Wünsche zu sehen. Das Bild dieses Mediums kann keine Würde mehr zurückgewinnen, es kann nur noch selber terroristisch wirken. Nicht dass wir hier nicht auch Menschen zugesehen hätten, die gegen den Würde- und Wirklichkeitsverlust anzukämpfen versuchten. Und doch sind sie machtlos gegenüber dem Zwang einer Endlosschleife der Bilder, die sich zugleich in eine bizarre Fiktion auflösen, trivialisieren und sich in eine Art visuelles Gebet auflösen. Tatsächlich bekommt diese Bilderschleife etwas dezidiert Religiöses; die erste Großkatastrophe des globalen Kapitalismus im neuen Jahrtausend schreibt sich direkt in die Seelen ein als das Bild unseres Unterbewusstseins, das nun real geworden ist wie eine Prophezeiung, die endlich wahr wird. „Der Reiz des verallgemeinerten Phantasiebildes der Katastrophe“, schrieb Susan Sontag, „besteht darin, dass es von den normalen Verpflichtungen befreit.“ Wir reagieren auf dieses Bild des Grauens mit der Rekonstruktion des Über-Normalen, der Religion, weil Aufklärung vor dem Bild versagt. Und Theodor Adorno hat von denjenigen, die sich unentwegt Katastrophenbilder ausmalen, behauptet, sie seien solche, „die sie irgend auch wollen“. Von einem text- und subjektlosen Bilderkrieg wissen wir nicht, ob er gegen uns oder durch uns geführt wird.

Unser Fernsehen kann nicht anders: Es ist zum Überbringer der text- und subjektlosen Kriegserklärung geworden. Es überbringt sie, aber es kann sie nicht verstehen.