Wahrheit über den Daumen gepeilt

Erster Prozess gegen AKW-Gegner nach dem jüngsten Castor-Transport: PolizistInnen unter Verdacht des Meineides  ■ Von Heike Dierbach

Im Zusammenhang mit den Protesten gegen den jüngsten Castortransport nach Gorleben steht nun der erste AKW-Gegner vor Gericht. Der 32-jährige Jürgen A. aus Dahlenburg im Kreis Lüneburg soll einen Polizisten attackiert haben, so dass dieser sich die Hand verletzte. Nach dem zweiten Verhandlungstag im Amtsgericht Lüneburg droht der Prozess aber bereits zu einer Schlappe für die Polizei zu werden: Die Staatsanwaltschaft sieht einen begründeten „Verdacht der Falschaussage beziehungsweise des Meineides durch die im Prozess vernommenen Polizeibeamten“.

Es geht um die Geschehnisse vor der Infowiese in Dahlenburg am 28. März dieses Jahres. Nachdem der Zug mit den Castoren den Bahnhof Dahlenburg verlassen hat, zieht die dort stationierte Polizeieinheit ab – vorbei an der Infowiese. Einige AKW-GegnerInnen und PassantInnen überqueren zwischen den Schritt fahrenden Einsatzfahrzeugen die Straße. Die vor der Wiese stationierten Beamten, eine Essener Einheit, vermuten darin eine Behinderung der Staatsgewalt und verfolgen einen Passanten bis zu seinem am Straßenrand geparkten Auto. Da sie seiner aber nicht habhaft werden können, beginnen sie, mit Messern die Ventile des Wagens zu zerstören. Dass „störende Fahrzeuge fahruntauglich gemacht werden dürfen“, hat ihnen die Einsatzleitung kurz zuvor über Funk mitgeteilt.

Soweit sind sich alle Beteiligten in ihrer Wahrnehmung einig. Dann, sagt Jürgen A., hätten er und andere gegen die Zerstörung der Ventile protestiert. Der Beamte Harald H. habe ihn daraufhin in ein Gebüsch gestoßen, sich wieder an die Ventile gemacht und dabei selbst in die Hand geschnitten. H. hingegen sagte vor Gericht, Jürgen A. habe ihn plötzlich von der Seite getreten, so dass er sich mit dem Messer in den linken Daumen schnitt. Drei seiner KollegInnen bestätigten diese Darstellung unter Eid.

Die Version des Angeklagten stützen mehrere ZeugInnen – darunter ein Richter aus Lüneburg, der nur zufällig auf dem Weg zum Einkaufen vorbeikam. Die Staatsanwaltschaft forderte deshalb den Bericht des Polizeiarztes an, der Harald H. behandelte. Im Protokoll ist eine Schnittwunde vermerkt, „die sich der Beamte selber zugezogen hat“ – und zwar nicht am linken, sondern am rechten Daumen. Der Staatsanwalt sieht deshalb den Verdacht des Meineides begründet und hat die BeamtInnen für den nächsten Verhandlungstag am Montag erneut vorladen lassen. Der Aufforderung wird aber nur Harald H. folgen – die drei KollegInnen hätten gerade alle Urlaub.

Der Fall ist auch deshalb brisant, weil die von Jürgen A. angeblich begangene „schwere Körperverletzung“ für die Polizei der Grund war, wenig später die gesamte Dahlenburger Infowiese zu räumen – A. hielt sich dort auf. Bei dem Einsatz waren zahlreiche AKW-GegnerInnen und auch PassantInnen verletzt worden, Zelte und Bauwagen wurden zerstört. Die Bürger-initiative Dahlenburg hat mittlerweile Klage eingereicht, um feststellen zu lassen, dass die Räumung rechtswidrig war.