Bündnistreue Berliner

200.000 Menschen folgten dem Allparteienaufruf zur Kundgebung am Brandenburger Tor. Der Bundespräsident zitiert John F. Kennedy, viele schwanken zwischen Besorgnis und Solidarität

Der Flieger nach San Francisco war schon gebucht, aber statt ihre amerikanische Freundin wieder zu sehen, steht Nele Sreerksen vorm Brandenburger Tor und drückt ihre Trauer aus. Die 21-Jährige ist mit ihrer Familie extra aus Hannover angereist, „weil es auch uns hätte treffen können“. Jetzt hält sie gemeinsam mit ihrer Mutter eine US-Flagge über die Absperrung vor der Bühne. Als Symbol. Ihrer Mutter ist das wichtig. Als Ventil für ihre Gefühle. Um die Sprachlosigkeit zu überwinden. Und um Raum für rationale Überlegungen zu finden.

Rund 200.000 Menschen folgten gestern Nachmittag dem Aufruf von allen im Bundestag vertretenen Parteien zur Kundgebung am Brandenburger Tor gegen den Terror. Über die Videoleinwand flimmern Bilder von händeschüttelnden Prominenten: Klaus Wowereit, Heide Simonis und Norbert Blüm. Nach einem Trauergesang von Jocelyne Smith redet Bundespräsident Johannes Rau. Erster Beifall kommt auf, als er sagt: „Wir sagen allen Amerikanern: Amerika steht nicht allein.“

Auf der Bühne stehen die Partei- und Fraktionsvorsitzenden aller im Bundestag vertretenen Parteien, die zur Kundgebung aufgerufen hatten, aber auch Bundestagspräsident Wolfgang Thierse. Unten sitzen andere prominente Politiker, darunter die Spitzenkandidaten der PDS und der CDU, Gregor Gysi und Frank Steffel.

Es ist eine Rede an die ehemalige Berliner Schutzmacht USA, die der Bundespräsident hält, eine Rede, die vor allem von der Erinnerung der Solidarität der USA mit Berlin getragen ist, die es nun zu erwidern gelte. Vor Raus Rednerpult ist eine Tafel angebracht: „Solidarity with the United States of Amerika“. Im Publikum ist ein Transparent zu sehen: „Berlin zeigt Flagge“. Es ist die amerikanische Flagge. Rau zitiert John F. Kennedy: „Allen, die seit langem unsere Verbündeten sind und mit denen wir unsere kulturelle und geistige Wurzeln verbinden, sichern wir die Loyalität eines treuen Freundes zu.“ Die Menschen lauschen mit feierlichem Gesichtsausdruck. Es ist nicht das Publikum, das man auf Friedensdemonstrationen sieht. Hier sind die normalen Berliner. Vor dem Hotel Adlon arbeitet ein Bautrupp ungerührt weiter mit der Kreissäge. „Da spricht der Bundespräsident“, mahnt ein Passant. „Egal, hier wird gearbeitet“, sagt der Polier. Erst als die Polizei eingreift, stellt er die Maschine ab.

Nach Rau sprach Daniel Coats, der neue amerikanische Botschafter. Den größten Beifall bekam er, als er sagte, dass alle, die hierher gekommen sind, Solidarität mit Amerika zum Ausdruck bringen. „Das“, sagt Coats, „wird Amerika niemals vergessen.“

Schon Stunden vor Beginn der Kundgebung waren Nele und Frauke Sreerksens auf dem Platz. Sie sind auch gekommen, um die Politiker daran zu erinnern, dass sie nicht über das Volk hinweg entscheiden dürfen. „Wir müssen den Rest Imperialismus ablegen, den wir noch haben“, erklärt Frauke Sreerksen. Ein Militärschlag sei keine Lösung. Viel eher brauche es Investitionen in Bildung und Kultur aller Länder.

Petra Hedke ist das erste Mal auf einer Demo, „weil die Welt seit Dienstag nicht mehr so ist, wie sie war“. Und weil sie die Vorherrschaft des Terrors nicht akzeptiere. „Aber um darüber abzustimmen, ob der Sündenfall eingetreten ist, bin ich nicht hier“, fügt sie an.

„Großer Gott, schicke Frieden für alle“, ragt als Botschaft an einem Bauzaun aus der Menschenmenge heraus. Darunter steht das Ehepaar Ley, Jahrgang 36, den zweiten Weltkrieg im Kopf, mit Tränen in den Augen. Besonnen müsse man reagieren, meinen sie, die Schuldigen fassen, aber nicht nur auf bloße Verdächtigungen hin handeln.

Ein Mann verteilt in der Menge Aufkleber: „A clear No to Terror“. Viele Demonstranten nicken und heften sich das Papier an die Jacke. Aber heißt ein Nein zum Terror gleichzeitig ein Ja zur Politik der amerikanischen Regierung? Ein Bier trinkendes Pärchen meint: „Vergeltung muss sein, auch wenn das Krieg bedeutet.“ Allerdings könnte eine deutsche Beteiligung an einem Militäreinsatz einen Terroranschlag auf das KaDeWe nach sich ziehen, gibt die Frau zu bedenken. Das Risiko müsse man wohl eingehen. Eine Studentin sagt, sie sei unbedingt für eine friedliche Lösung des Konflikts. „Peace please“ fordert eine Frau auf einem Pappschild. Viele schwenken Amerikafähnchen. Ein Mann radelt durch die Menge und schreit: „Von den Millionen, die die Amis umgebracht haben, redet kein Mensch.“ – „Schwachkopf“, rufen ihm Passanten kopfschüttelnd hinterher.

Unter den Teilnehmern sind nur wenige mit Transparenten. Auf einem steht: „No War“, auf dem anderen ist eine weiße Friedenstaube auf blauem Hintergrund zu sehen. Ein anderes Transparent wurde von der Polizei beschlagnahmt. „Keine Solidarität für Bushs Rachefeldzug“ stand darauf. Passanten hätten daran Anstoß genommen, erklärt ein Polizist. Da es sich um eine Trauerbekundung handele und man eine Eskalation vermeiden wolle, habe man das Transparent sichergestellt.

Zum Abschluss der Kundgebung singt noch einmal Jocelyn B. Smith „Amazing grace“. Die Menge stimmt mit ein. Da kaum einer den Text kennt, summen die meisten.

Später äußern viele Teilnehmer ihren Wunsch, Besonnenheit zu zeigen. „Auf Böses darf man nicht mit Bösem reagieren“, sagte eine ältere Frau. Ein Mann sagte: „Man darf jetzt nicht alle Moslems in einen Topf werfen.“ Sie waren sich einig mit Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, der davor warnte, dass nur der Hass in Deutschland gesehen wird. „Über eine militärische Antwort hinaus“, sagte Thierse, „geht es auch darum, kulturelle Antworten zu finden.“

ALL/ARB/KUP/WERA