Angst kann man keinem erklären

Ältere Menschen erinnern sich: an ihre Nächte im Luftschutzkeller und das Gefühl des Ausgeliefertseins. Sie hoffen auf ein Innehalten der westlichen Welt

„Wir werden vonden Amerikanernnur benutzt“

aus Frankfurt HEIDE PLATEN

Peter Kober versteht etwas von Sicherheit. Seit 1996 gibt der 65-Jährige Kurse, berät und schult in Frankfurt am Main Rentnerinnen und Rentner. Das Angebot des Instituts für Sozialarbeit richtet sich an ältere Menschen, die sich in der Großstadt unsicher fühlen. Kober hat den Zweiten Weltkrieg als Kind erlebt. Er kam nach Frankfurt, als es in Schutt und Asche lag. Das Herz der Stadt, der Römerberg, war völlig zerstört, aus den Trümmern ragte einsam die schwarze Silhouette des Domes. „Das war für uns Kinder fast normal.“

Der Angriff auf das World Trade Center, sagt er, sei für ihn mit dem Krieg „nicht vergleichbar, weil die Menschen in New York überhaupt keine Chance hatten, zu entkommen. Im Krieg gab es erst den Voralarm, dann Fliegeralarm. Wir hörten die Sirenen. Wir haben das also gewusst.“ Die New Yorker seien „ohne jede Vorwarnung aus einer heilen Welt in die Apokalypse katapultiert worden. Man muss sich mal vorstellen, was das bedeutet!“

Kober ist am Tag nach dem Attentat durch die Frankfurter Innenstadt gegangen und hat zum höchsten Haus, den 216 Meter hohen Turm der Commerzbank, hinaufgeblickt: „Da ist selbst für Sicherheitsexperten nichts zu tun.“ Da helfe nur Prävention am Boden: „Und die hat versagt. Uns ist immer wieder vorgegaukelt worden, wir leben in einer sicheren Welt.“ Aber, sagt er, es hätte sich noch vor wenigen Tagen niemand vorstellen können, „dass eine so große Nation wie die USA mit riesiger Militärmacht von einer Handvoll Terroristen an den Rand des Strauchelns gebracht werden kann.

Wenn der Bündnisfall eintritt – und der wird eintreten –, sind die europäischen Nato-Staaten blitzschnell in die Konfrontation verstrickt.“ Deutschland müsse trotzdem ohne Wenn und Aber zu den USA stehen: „Bei der Luftbrücke nach Berlin haben GIs ihr Leben gelassen. Das darf nicht vergessen werden.“ Einen Krieg „im großen Stil“ fürchtet Kober nicht, eher die Verwicklung in einen aussichtslosen Kampf zum Beispiel in Afghanistan, einem unzugänglichen, bergigen Land: „Hitler hat Jugoslawien nicht beherrscht und ist von Tito in einen Partisanenkrieg gezwungen worden, die USA haben Vietnam nicht beherrscht.“

Der Rentner Dietrich Warmbier (65) bietet seit 1997 als Sicherheitsberater seine Dienste am Institut für Sozialarbeit an. Als Verwaltungschef leitete er ein 19-stöckiges Krankenhaus in Frankfurt. Warmbier erlebte den Zweiten Weltkrieg in Berlin-Tegel. Bomben schlugen in Nachbarhäuser ein, rissen tiefe Krater in die Straßen. Er hat heute noch im Ohr, wie die Mutter damals rief: „Schnell! Schnell!“ Wie die Menschen rannten und zu Gott flehten, wenn der Luftschutzbunker unter den Einschlägen erbebte. Er sah die Brände in den Straßen, roch tagelang Rauch und Staubwolken: „Wenn man das miterlebt hat, weiß man, wie schnell ganze Stadtviertel in Schutt und Asche gelegt werden können. Es war grausam!“ Aber, sagt auch er, damals sei man „vorgewarnt gewesen“.

Die westliche Industriegesellschaft sei in ihrer Hybris angreifbar. Die USA hätten sich in ihrem ungebremsten Wachstum in falscher Sicherheit gewiegt: „Es ist für diese Großmacht wichtig, zu erkennen, wie verwundbar sie ist.“ Als Berliner sei er den USA dankbar, dennoch müssten sie jetzt darüber nachdenken, ob sie ihre Rolle in der Welt weiter so „ruppig, überheblich und arrogant“ spielen können. Das Beistandsabkommen müsse aber gelten. Isoliert, fürchtet er, würden die Vereinigten Staaten „noch radikaler reagieren“. Zur Zeit der Kuba-Krise und des Mauerbaus habe auch er neue Weltkriege befürchtet und sei erleichtert über die Besonnenheit der West-Allierten gewesen. Es sei generell zu fragen, ob herkömmliche Kriege „militärisch überhaupt noch eine Daseinsberechtigung“ haben.

Die waschechte Frankfurterin Helga St. ist Chefin in ihrem 1888 gegründeten Familienbetrieb im Stadtteil Bornheim. In dem Eisenwarenladen werden die Schräubchen noch einzeln gezählt und eingetütet, die Kunden individuell beraten. Hier kaufen Handwerker ein. Als sie die Bilder aus New York im Fernsehen gesehen hat, sind ihre Kriegserinnerungen mit Macht zurückgekommen. „Ich habe darüber bisher auch mit den Kindern kaum geredet.“ „Kurz vor Weihnachten 1943“ kamen die ersten Luftangriffe. Sie saß im kalten, dunklen Luftschutzkeller, als die Bomben einschlugen, die Fenster barsten, die Zwischenwände der Wohnungen einstürzten. Der Rauch des Ofens schlug aus dem Schornstein in den Keller zurück. Die Menschen drohten zu ersticken: „Die Angst, die man da hat, die kann man keinem erklären.“ Todesangst sei aber auch durch „das Gefühl der Ohnmacht, der eigenen Hilflosigkeit“ entstanden. Vor einem Bunker in der Nachbarschaft wurde während der panischen Flucht der Menschen eine Frau totgetreten.

Noch mehr Erinnerungen werden wach: wie in der Nachbarschaft während der Flucht eine Frau totgetreten wurde; wie sie selbst nach der Evakuierung in den Spessart auf freiem Feld von einem Tiefflieger gejagt wurde; wie ihre Mutter an nur einem Tag weiße Haare bekam, als sie nach einem Bombenangriff zwischen Toten den Vater suchte. Der kehrte dann unversehrt heim, durch einen Zufall gerettet. Die immer wieder neue Kriegsangst entstehe, sagt Helga St., „weil man das ja schon einmal erlebt hat. Besonders viele Tote gibt es immer da, wo man sich besonders sicher fühlt.“

In der St.-Raphael-Gemeinde in Frankfurt-Rödelheim trifft sich regelmäßig der „Senioren Computer Club“. Zwei der Teilnehmer treffen sich im Foyer zum Gespräch. Ingrid N. ist mit 65 Jahren eine der Jüngeren. In den Kurs geht sie, „um mein Hirn zu schulen“. Sie mag eigentlich keine Interviews. „Aber die Ereignisse in den USA haben mich sehr bewegt.“ Neben ihr sitzt der weißhaarige Werner Rütten (75). Er ist in Düsseldorf geboren, eine Schwester kam bei einem Bombenangriff bei Bochum um, die Eltern „sind zweimal ausgebrannt“. Rütten ist als junger Mann „politisch völlig naiv“ in die Waffen-SS eingetreten, wurde verwundet, kam in englische Kriegsgefangenschaft. Erst nach Kriegsende habe er die „verbotenen Bücher“ von Tucholsky und anderen gelesen und begriffen. 18 Jahre schlug er sich als Hilfs- und Industriearbeiter durch, wurde Gewerkschafter, trat 1950 wieder aus, weil die jungen Gegner der Wiederbewaffnung Deutschlands „gedeckelt wurden“. Durch Zufall kam er in eine amerikanische Firma: „Da hat keiner gefragt, was ich vorher gemacht habe.“ Er stieg schnell zum EDV-Innendienstleiter auf.

„Wir hörten die Sirenen, wir warenja gewarnt“

Er sei, sagt Rütten, „keineswegs fortschrittsfeindlich“. Aber er habe gesehen, wie die Nachkriegsgesellschaft „nach und nach wieder in die alten Gleise zurückgekehrt“ sei. Der Anschlag auf World Trade Center und Pentagon sei „eine Konsequenz, die ich seit Jahrzehnten befürchtet habe“: „Es geschehen die fürchterlichsten Dinge, ohne dass man nur einen Moment innehält und fragt, woher der Hass kommt. Niemand fragt, ob wir etwas falsch gemacht haben.“

Ingrid N. ist mit ihrer Mutter aus Schlesien geflüchtet und den Amerikanern dankbar, die ihrer Familie bei der Flucht in den Westen halfen. Sie lernte in Frankfurt Bankkauffrau, arbeitete als Lehrling an der Börse. Eigentlich, sagt sie, habe sie keine schlechten Erinnerungen an den Krieg. Sie habe sich bei ihrer Mutter „sicher und geborgen“ gewusst. Dennoch, der Anschlag in den USA habe in ihr „Gefühle der Hilflosigkeit, des Ausgeliefertseins, die in mir drin sind, wieder geweckt“. Auch Angst vor der Zukunft: „Man kann gar nichts machen.“ Sie wehrt sich aber „gegen den Formalismus“, mit dem die Medien die immer gleichen Schreckensbilder immer wieder senden: „Da wird die Angst künstlich geschürt.“ Sie befürchtet eine weltweite Hysterie, „Rache am Islam, bei der die Emotionen durchschlagen“. Die Religion könne wie bei den Kreuzzügen „nur benutzt“ werden für andere, zum Beispiel Wirtschaftsinteressen. Die Welt habe sich grundsätzlich verändert: „In den 50er-Jahren ging es uns gut. Da hatten wir alle nichts. Heute fehlt die Menschlichkeit. Nur Wirtschaftsdenken und Bruttosozialprodukt zählen.“

Das Leben, meint sie, sollte nach dem Anschlag weitergehen wie bisher. „Wir dürfen uns nicht erpressen lassen.“ Eine Beteiligung der Bundesrepublik am Nato-Einsatz lehnt sie aber ab: „Ich war entsetzt. Meiner Meinung nach werden wir von den Amerikanern benutzt.“ Sie fürchtet Angriffe auf die Länder der Dritten Welt: „Die Kleinen werden dann ganz klein gemacht.“

Ingrid N. hofft auf die heilende Wirkung der Katastrophe, das Erkennen der eigenen Verletzlichkeit: „Die ganze Welt ist erschüttert. Sie muss innehalten und nachdenken. Wir müssen wieder miteinander reden.“ Dem Bombeninferno in Dresden ist sie 1945 als Flüchtlingskind knapp entkommen: „Meine Mutter hatte so eine Ahnung: Nichts wie weg!“