Der Verstand ist das erste Kriegsopfer

Der amerikanische Autor M. William Wythe mahnt einen Diskurs über das Vorgehen der USA an

Warum Extremisten uns zerstörenwollen, wird kaumdiskutiert

von M. WILLIAM WYTHE

Während man sich durch die Trümmer der Gefühle im Gefolge des schrecklichen Dienstags kämpft, kann man sich nur fragen, was die Zukunft bringen wird. Im rasenden Rhythmus der Kriegstrommel droht bereits jegliche nachdenkliche Diskussion über die weitere Vorgehensweise unterzugehen.

Rache wird am besten kalt serviert, wird uns gesagt. Die einzige Möglichkeit, weitere Terrorangriffe zu vermeiden, ist die Vernichtung des Terrorismus durch eine weltweite Kampagne der Auslöschung. Genau das hören wir im Fernsehen. Der Tod unschuldiger Zivilisten wird vorab begründet. Wir wollen, dass andere den Zorn und die Qualen spüren, die unserer Wut und unseren Schmerzen entspringen. All dies ist verständlich. Rache hat eine lange und geschichtsträchtige Tradition in unserer Kultur. Auge um Auge, Zahn um Zahn – so wurde es uns gelehrt. Wir akzeptieren dies als normal und natürlich. Aber macht das praktisch gesehen überhaupt Sinn?

Um dies beantworten zu können, müssen wir uns fragen, ob wir Rache oder Gerechtigkeit wollen. Vergeltung, die gegen Unschuldige gerichtet ist, ist weder juristisch noch moralisch gerechtfertigt. Gerechtigkeit für diejenigen zu verlangen, die diese schreckliche Tat begangen haben, ist die einzig angebrachte Forderung. Diejenigen, die auf Rache beharren, müssen sich darauf vorbereiten, andere Ziele zu opfern. Rache gegen die Verbrecher ist kontraproduktiv, wenn man ähnliche Terrorangriffe in Zukunft vermeiden will. Diese beiden Ziele stehen im Widerspruch zueinander. Zu denken, dass man beides erreichen kann – Rache und Prävention –, ist nicht nur weit hergeholt, sondern eine Illusion. Es gibt Millionen Extremisten in der Welt, die nur darauf warten, den Kampf gegen unser Land aufzunehmen, sobald sie die Chance haben, sich einer terroristischen Eliteorganization anzuschließen. Da wir keinen Polizeistaat haben, der den gesamten Planeten umspannt, ist es einfach sinnlos, immer wiederkehrende Gewalttaten durch Sicherheitsvorkehrungen allein verhindern zu wollen. Wir können unsere Grenzen genauso wenig wirksam schließen, wie wir uns aus der globalen neuen Wirtschaft zurückziehen können. Ob man es will oder nicht, wir sind ein Teil der Weltgemeinschaft der Nationen. Die Terroristen wissen dies nur zu gut.

Wir sind mit einem Dilemma konfrontiert: Die Urheber dieser Gräueltaten zu finden und zu zerstören, ohne „Kollateralschaden“ oder einen hohen amerikanischen Blutzoll in Kauf zu nehmen, ist beinahe unmöglich. Der Tod vieler unschuldiger Zivilisten bei dem Versuch, die Schuldigen auszulöschen, führt jedoch unweigerlich dazu, dass viele Länder von Nordafrika bis Indonesien Terroristen als Märtyrer betrachten werden. Dies würde nur die Spirale der Gewalt aufrecht erhalten und neue Führer hervorbringen, die bereit sind, den Kampf aufzunehmen. Im Gegensatz zu dem, was wir im Fernsehen hören, müssen wir die Wurzeln des Terrorismus analysieren, um ihn bekämpfen zu können.

Macht Rachepraktisch gesehenüberhaupt einen Sinn?

Feindseligkeit gegenüber Amerika ist weltweit verbreitet. Obwohl es viele Gründe gibt, warum Extremisten uns zerstören wollen, werden nur wenige davon offen diskutiert. Denn dies würde nicht nur eine schmerzhafte Prüfung unserer Politik, sondern auch unserer Haltung gegenüber anderen nach sich ziehen. Seit Jahren genießen wir stolz unseren Status als einzige Weltmacht. Große Macht birgt aber auch eine große Verantwortung in sich. Sogar die Verbündeten finden unsere kurzsichtige Hochachtung vor unseren eigenen Interessen falsch. Viele unserer politischen Bündnisse haben Armut und Unterdrückung in den Ländern der Dritten Welt gefördert. Auch wir agieren, als ob unsere wirtschaftlichen Interessen bei weitem wichtiger sind als die Opfer menschlichen Leidens, die unsere Politik fordert.

Dieses große Land wurde nicht durch unseren Durst nach Rache oder unseren Willen, anderen Schmerzen zuzufügen, geschaffen. In der Heimat der Mutigen, dem Land der Freien sollten wir keine Angst davor haben, aus dieser schrecklichen Tragödie wertvolle Lektionen zu ziehen. Terrorismus existiert nicht in einem Vakuum. Nur wenn wir versuchen, die Ursachen dafür zu verstehen, entschärfen wir die Argumente derjenigen, die für den Terrorismus plädieren. Wir können Gewalt nicht isolieren und ausradieren, indem wir uns denjenigen, die sie benutzen, anschließen. Wir können jedoch den Irrsinn eines totalen Krieges gegen einen fanatischen Phantomgegner zurückweisen. Indem wir Rache fordern, werden wir erfolgreich der Brutalität das Wort reden, die wir doch beenden wollen.

Aus dem Englischen von Carmen Becker