Raumklang und Geistwesen

Der vielleicht wichtigste deutschsprachige Komponist der Gegenwart: Karlheinz Stockhausen zu Gast beim Musikfest  ■ Von Nicola Gess

„Die Raumfahrer werden ja demnächst losfahren, und ich bin überzeugt, dass die Erfahrungen, die ein Mann erlebt, der in Zukunft auf den Mond fährt, nur ganz kleine Bestätigungen dessen sind, was in der Musik vorausahnend viele Jahre vorher bereits erfahren wurde.“ Seit dieser Äußerung Karlheinz Stockhausens sind zwar 35 Jahre vergangen, doch akustische Weltraumerfahrungen lassen sich mit der Musik des deutschen Komponisten immer noch machen. Da wundert es nicht, dass das Hamburger Musikfest getreu seinem diesjährigen Motto „Welt – Raum“ dem 73-Jährigen gleich vier Konzerte widmet, bei denen der Komponist selbst die Leitung hat.

Im Zentrum der Konzerte steht – mit der Oper „FREITAG aus LICHT“ und einer Zusammenstellung von Szenen – der noch nicht vollendete Opernzyklus LICHT, mit dem Stockhausen 1977 begann. Er hatte sich zum Ziel gesetzt, ein kosmisches Welttheater zu schaffen, in dem Musik und Religion zu einer Einheit verschmelzen und Visionen einer höheren Menschheit realisiert werden. Im Mittelpunkt des Zyklus stehen die drei Geistwesen Michael, Luzifer und Eva. Ihre musikalischen und szenischen Auseinandersetzungen verkörpern die Geschichte von Kosmos und Mensch. Dabei vertritt Michael die Kräfte der Schöpfung, Luzifer ihren Widersacher und Eva die Fähigkeit zu ihrer Vervollkommnung. Stockhausen unterteilt den Zyklus in sieben jeweils abendfüllende Teile. Nach den sieben Wochentagen benannt, sollen sie die spirituelle Bedeutung der Wochentage wiederbeleben. So handelt es sich bei „FREITAG“ um den Tag der Versuchung Evas durch Luzifer. Kompositorischer Kern des gesamten Zyklus ist eine siebengliedrige „Superformel“, die im ersten Stück der „Szenen aus LICHT“ ganz zu hören sein wird.

Doch nicht nur die spirituellen Inhalte von Stockhausens Werken sollen das Publikum in Kontakt mit anderen Welt-Räumen bringen. Auch die elektronischen Klänge entführen den Hörer in weitgehend unbekannte Sphären. Während im LICHT-Zyklus elektronische und live erzeugte Klänge miteinander verwoben werden, präsentiert der Komponist in zwei Nachmittagskonzerten reine Tonbandkompositionen. Umgeben von Lautsprechern sitzt das Publikum da mitten im Klang und erlebt, wie seltsame Geräusche und Töne zwischen den Lautsprechern hin und her wandern. Die Fremdheit dieser synthetisch produzierten Klänge kann die Phantasie dazu anregen, die akustischen Räume mit Bedeutungen zu füllen, sie zum Beispiel als Musik „von anderen Sternen“ (Stockhausen) zu verstehen. Als Orientierungshilfe für die Hörer baut Stockhausen außerdem Bruchstücke von bekannten Klangereignissen in seine Kompositionen ein: Sprachfetzen und menschlichen Gesang in Gesang der Jünglinge, Schlagzeugklänge in Kontakte und Fragmente von 137 Nationalhymnen in Hymnen, der musikalischen Utopie eines Schmelztiegels aller Nationen.

Stockhausens spirituell angehauchte Kompositionen waren in den politisch bewegten 70er- und 80er-Jahren häufig heftiger Kritik ausgesetzt. Man warf ihm vor, sich nicht mit der realen Welt und ihren Problemen auseinander zu setzen, sondern selbstverliebte Weltflucht zu propagieren. Dagegen hat Stockhausen wiederholt die musikalische Komplexität seiner Kompositionen und den Reichtum der von ihm erschlossenen Klangräume ins Feld geführt, die für ihn schwerer wiegen als jede Ideologiekritik. Heute sind religiöse Lebenskonzeptionen wieder gefragt, und so könnte man vermuten, dass Stockhausens esoterische Visionen nun auf mehr Sympathie stoßen werden. Die vier Konzerte in dieser Woche bieten jedenfalls reichlich Gelegenheit, solche neuen und alten Thesen zu überprüfen – oder aber, sich einfach zurückzulehnen und mit den Klängen auf akustische Entdeckungsreisen zu gehen, wie es der Komponist vorgesehen haben mag.

Elektronische Musik I (Gesang der Jünglinge, Kontakte): heute, 17 Uhr; „FREITAG aus LICHT“: 20 Uhr; Elektronische Musik II (Hymnen): morgen, 17 Uhr; „Szenen aus LICHT“: 20 Uhr, alles Musikhalle