Wenn der Scherer zum Schafe kommt

Zum ersten Mal fand am vergangenen Wochenende ein internationaler Schafschurwettbewerb in Deutschland statt. Lauter Hände rasten zu Techno-Sounds und Britney Spears nur so durch die Wollpelze. Der Organisator Fred Wachsmuth will seinen Berufsstand jetzt vor dem Aussterben bewahren

von ANTJE LANG-LENDORFF

„Zieht mich aus“, flötet das Schaf, setzt sich auf einen Stuhl, schlägt die Beine übereinander und harrt der Dinge, die da kommen. So verspricht es jedenfalls das Logo der französischen Scherer, die am vergangenen Wochenende zum ersten internationalen Schafschurwettbewerb nach Brandenburg reisten. Weiß auf die grüne Einzäunung gemalt soll das kokette Schaf seinen Artgenossen wohl ein Vorbild sein. Oder Mut machen. Für die Schafe auf dem Podest im Bierzelt sieht die Wirklichkeit ganz anders aus.

„Go“, ruft der Kommentator und dreht die Musik auf. Vier Männer in Muskelshirt, blauer Scherhose und Filzmokassins setzen jeweils ein wolliges Schaf auf seinen Hintern, so dass die Beine hilflos in die Luft ragen. Mit beiden Knien und einer Hand haben sie die Tiere fest im Griff. Mit der anderen schnappen sie sich die Schermaschine. Surrend fressen sich die Kämme in das dicke Vlies. Möglichst keine Wolle stehen lassen oder das Schaf verletzen. Die Richter zählen jeden Kratzer. Und immer zack-zack. Die Zeit wird gestoppt.

Dem Organisator des Wettbewerbs, Fred Wachsmuth, tropft der Schweiß von der Nasenspitze. „Wenn du einmal dabei bist, beißt du dich fest. Dann willst du’s gut machen“, weiß er aus Erfahrung. Die sieht man ihm an. Wie wild fährt seine Hand durch die Wolle, während das Publikum johlt und pfeift. Mit einem Klaps auf den Po schiebt er das nackte, bibbernde Schaf zur Einzäunung. „Ups, I did it again“, singt Britney Spears, und schon ist das nächste Tier an der Reihe.

Der gedrungene, kleine Mann mit rötlichem Bart und flotten Sprüchen auf den Lippen liebt seinen Beruf. Aus einer Schäferfamilie in der Nähe von Magdeburg stammend, begann er mit 14 Jahren zu scheren. In der DDR sei es ihnen gut gegangen, erzählt er. Damals wurden Schafe gezüchtet, um die eigene Textilindustrie zu versorgen. „Für ein Kilo Rohwolle hat man noch rund 100 Mark bekommen.“ Heute hält man die Tiere fast nur wegen des Fleisches. Die Wollpreise gingen mit der Wende in den Keller. Seitdem geht es mit den Schäfern auch den Scherern schlecht. Wachsmuth zog mit Frau und Töchtern nach Hannover und machte sich dort selbständig. 35.000 Schafe schert er im Jahr für 3 Mark pro Tier.

Da die Schafe nicht zum Scherer kommen, muss der Scherer zu den Schafen kommen. „Von den 21 Jahren, die ich verheiratet bin, war ich vielleicht 10 zu Hause“, schätzt er. Mal schert er in Niedersachsen, dann wieder in Schottland oder Frankreich. Obwohl die Arbeit hart ist und er viel herumfahren muss, ist er mit Herz und Seele bei der Sache. „Die Freiheit macht alles wieder wett. Ich bin immer mein eigener Herr.“

Seine Begeisterung will der 43-Jährige auch Jüngeren vermitteln. Doch der Scherernachwuchs in Deutschland ist dünn gesät. „Wir sind leider die letzte deutsche Scherergeneration“, stellt er fest. In Frankreich und Schottland sei das anders. In Deutschland fehlt seiner Meinung nach das Verständnis für den Beruf. „Die Leute halten uns für Zigeuner, weil wir so viel unterwegs sind.“ Hinzu komme die Konkurrenz aus dem Osten, die die Preise drücke. Viele Scherer aus Polen und Tschechen seien in den letzten Jahren über die Grenze gekommen.

Um seinen Berufsstand in Deutschland vor dem Aussterben zu bewahren, will Wachsmuth jetzt einen Verband deutscher Schafscherer gründen: „Wir müssen uns doch gegenseitig helfen.“ Deswegen hat er auch zusammen mit der Schäferei Ritter in Stangenhagen, Teltow-Fläming, den Wettbewerb auf die Beine gestellt. 26 Teilnehmer sind seinem Aufruf gefolgt. Sie kommen aus ganz Europa, viele mit einer eigenartigen Lebensgeschichte im Gepäck.

Ein französischer Schafschurwerkzeug-Verkäufer lebte früher in Afghanistan und hat außerdem Russisch studiert. Ein deutscher Bauingenieur gab Beruf und Heimat auf und zog nach Frankreich zum Scheren. Bei den bayrischen Teilnehmern ist die Vokuhila-Frisur (vorne kurz, hinten lang) besonders angesagt.

Rund hundert Leute schauen zu, wie Stunde um Stunde, das ganze Wochenende lang, über tausend Schafe ihre Wolle lassen. Ein kleiner Schotte in voller Montur bläst den Dudelsack, während auf dem Podest weiter die Maschinen surren.

Der Neuseeländer Terry Pevreal hat ein eigensinniges, gar nicht lammfrommes Schaf erwischt. Es zappelt und tritt um sich. Pevreal lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Wenn das Schaf rumzickt, verliert er eben ein paar Sekunden. Das hebt die Welt des 53-Jährigen nicht aus den Angeln. „Bei meinem ersten Wettbewerb bin ich zweiter geworden in der Mittelklasse. Das hab ich nie wieder geschafft“, erzählt er, wie immer mit einem Schmunzeln in den Augenwinkeln. Mit der randlosen Brille und dem schwarzgrauen Haar im Seitenscheitel könnte er genauso gut in einem Architektenbüro arbeiten.

Tatsächlich schloss er in Neuseeland ein Chemiestudium ab, gab mehrere Jahre Englischunterricht in Japan, studierte Agrarwissenschaften in Wien. Heute lebt er in einer Altbauwohnung mitten in der österreichischen Hauptstadt und schert die Schafe im Umland. Wenn Pevreal abends zurück in die Stadt kommt, geht er gerne mal in eines der „Heuriger“, die Wiener Weinlokale. So kombiniert er das Landleben mit der Großstadt – und ist glücklich dabei. Ein bisschen wie ein Pionier fühlt er sich mit dieser Lebensweise, und genau wie Wachsmuth, vor allem frei. Vier Monate im Jahr setzt die Schafschersaison aus. Dann fährt er nach Patagonien zum Wandern oder lernt Spanisch in San Sebastián.

Im Halbfinale scheidet er aus. Wachsmuth zieht in die Endrunde ein. Die vier Besten des Wettbewerbs schälen zu Techno-Sounds nacheinander zehn Schafe aus ihrem Vlies. Wachsmuth gibt alles, doch der Schotte Hamisch Mitchell ist schneller. Seine Hand fliegt nur so durch die Wolle, letztlich ist er um zwei Schafe schneller. Wachsmuth wird Zweiter, Mitchell Erster. Eine gute Leistung, vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass eines seiner Knie verletzt ist. Gerade hatte er in dreizehn Minuten und wenigen Sekunden zehn Schafen das Fell vom Leib geschoren – am Vorabend war er bierselig vom Podest gefallen.