„Nur sonstige rechte Straftaten“

In Berlin werden die Zahlen so genannter Hass-Delikte – wie rechtsextremistische Straftaten seit einer Reform der Kriterien für politisch motivierte Straftaten heißen – wie ein Staatsgeheimnis gehütet. Die Opfer finden jetzt Beratung

Ab sofort gibt es für Opfer rechter Gewalt auch in Berlin eine eigene Beratungsstelle: „Reach Out“. Am Bedarf hegt die Psychologin und Mitarbeiterin Lucia Muriel keinen Zweifel. „Wie andernorts auch, gibt es hier ganz verschiedene Opfergruppen – Migranten, Flüchtlinge, Obdachlose, Behinderte, Lesben und Schwule“, sagt die 45-Jährige.

Sie kennt viele Beispiele: Im August griffen Rechte am S-Bahnhof Warschauer Straße mehrere Personen unter anderem wegen ihrer Hautfarbe an. Im März wurde ein mexikanischer Journalist von Skins am U-Bahnhof Alexanderplatz attackiert. Im Mai letzten Jahres töteten vier junge Rechte in Pankow den 60-jährigen Sozialhilfeempfänger Dieter Eich. Das Fazit von Muriel lautet daher, „rechte Pöbeleien und Übergriffe gehören in allen Bezirken zum Alltag, auch wenn das nach außen hin oft anders dargestellt wird.“

Tatsächlich werden die Zahlen so genannter Hass-Delikte – wie rassistische und rechtsextremistische Straftaten seit einer Reform der Kriterien für politisch motivierte Straftaten nun heißen – in Berlin wie ein Staatsgeheimnis gehütet. Bei der Innenverwaltung fragt man vergeblich. Aufklärung bietet allenfalls die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der PDS-Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke. Danach hat das LKA Berlin offenbar im ersten Halbjahr 2001 drei rechtsextrem motivierte Angriffe auf Personen und 71 „sonstige rechte Straftaten“ an das Bundeskriminalamt gemeldet. Glaubt man den Zahlen, dann gab es im Juli keine einzige rechte Straftat. Bei der Innenverwaltung heißt es dazu, die Statistik sei nicht vollständig, da es Probleme mit den neuen Kriterien gäbe. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Zahlen höher liegen.

Sanchita Basu und Helga Seyb, die vor ihrer Arbeit bei „Reach Out“ in der antirassistischen Bildungsarbeit tätig waren, versuchen die Diskrepanz zwischen den offiziellen Zahlen und den tatsächlichen Übergriffen zu erklären. „Viele Migranten gehen nach einem Angriff nicht zur Polizei“, sagt Sanchita Basu. Dafür gebe es unterschiedliche Gründe: „ungesicherter Aufenthalt, Stress bei der Alltagsbewältigung, Misstrauen gegenüber deutschen Behörden.“ Aufgabe von „Reach Out“ sei es, den Betroffenen durch ein niedrigschwelliges Beratungsangebot unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Durch eine enge Zusammenarbeit mit Beratungsstellen wie dem Schwulen Überfalltelefon und Asyl- und Migrantenberatungen sollen die Betroffenen von „Reach Out“ erfahren.

Angesichts „einer zunehmend gegen Muslime gerichteten Rethorik“ warnt das multinationale Team vor einer „Stärkung des Rassismus der gesellschaftlichen Mitte“. Eine schwangere pakistanische Frau hatte „Reach Out“ berichtet, wie sie in der U-Bahn von einem „ganz normalen Mann mit Aktentasche“ mit den Worten „alle Moslems sollten ins Ghetto gesperrt werden“ angepöbelt wurde. Seitdem, sagt Sanchita Basu, meide die Frau öffentliche Verkehrsmittel.

HEIKE KLEFFNER

Reach Out: Tel. (0 30) 69 56 83 39, E-Mail: info@reachoutberlin.de